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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Dubosarsky
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Tür zu ihrem Haus so weit offenstehen sah, dass die goldenen Ziffern 33 nicht wie gewohnt im Sonnenlicht blitzten. Sie hatte nach der letzten Stunde noch Tennisunterricht gehabt, deshalb kam sie später nach Hause.
    Sie schleuderte Schultasche und Tennisschläger unter den Spiegel im Hausflur und ging geradewegs, eine Hand schon am Notizbuch und dem Stift in ihrer Hosentasche, in die Richtung, aus der Elkanahs tiefe und Hannahs hohe Stimme ertönte. Elkanah und Hannah saßen an dem Tisch in der Küche. Samuel war auch anwesend, klein und blass.
    Elkanah begrüßte Theodora mit einer weit ausholenden Geste. »Dora!«, rief er aus, ein Spitzname, den er nur verwendete, wenn er nervös war. »Wie würde es dir gefallen, nach Amerika zu ziehen und dort zu leben?«
    Tja, was sollte man darauf antworten, überlegte Theodora, während sie in ihr Notizbuch kritzelte. Nein konnte man schlecht sagen, nicht wahr, denn das hätte von Engstirnigkeit gezeugt – mit dreizehn sollte man jederzeit bereit sein, überall hinzuziehen und dort zu leben. Ja zu sagen wäre aber genauso falsch, wenn man sich dort, wo man gerade war, rundum glücklich und sicher und geborgen fühlte.
    »Warum?«, war ihre Kompromissfrage.
    »Dad könnte dort einen Job kriegen«, sagte Hannah. Sie wirkte angespannt, verständnislos. »In Philadelphia.«
    Philadelphia. Theodora musste unvermittelt an einen silberfarbenen Karton voller rechteckiger Päckchen mit Frischkäse darin denken.
    »Als Sänger?«
    Elkanah lächelte. »Zu was sonst wäre ich gut?« Er griff nach Hannahs Hand und drückte ihre Finger, aber sie entzog sich ihm.
    »Für wie lange?«
    »Na ja …« Elkanah zuckte die Acheln. »Schwer zu sagen, Schatz. Es ist ein Dreijahresvertrag. Aber es könnte uns dort gefallen, oder nicht? Wir könnten für immer dort bleiben!«
    Samuel starrte nach unten, auf die schiefernen Fußbodenfliesen. Philadelphia. Für immer. War das ernst gemeint? Sollte das etwa sein Schicksal sein, an einem Ort namens Philadelphia zu leben und zu sterben?
    »Bleib mal locker«, sagte Hannah verärgert zu Elkanah. »Du übertreibst alles immer gleich so.«
    »Ich will dorthin«, murmelte er. »Ich will, dass wir alle dorthin gehen.«
    Hannah erhob sich. »Natürlich willst du das. Natürlich«, erwiderte sie scharf. »Das würde dir gefallen, dass wir alle irgendwo feststecken, wo wir niemanden außer dir kennen.« Sie stampfte auf ihren dünnen Beinen aus dem Raum. Elkanah folgte ihr, flehentlich mit dem Geschirrtuch wedelnd.
    Samuel blieb sitzen, so still wie schmelzendes Eis. Lass mich nicht allein!, hörte er sich innerlich Theodora zubrüllen, so laut, dass seine Ohren davon schmerzten und ihm der Kopf wehtat.
    »Wow!«, sagte Theodora und ließ sich auf dem Stuhl neben ihm nieder.
    Samuel schaute zum Fenster hinaus.
    »Stell dir das bloß mal vor!«, sagte Theodora. »Amerika!«
    Amerika. Stell dir vor, in Amerika zu sein, dachte Samuel. Er kannte Amerika ausschließlich aus dem Fernsehen. In amerikanischen Schulen trugen sie keine Schuluniformen; nur Jeans und Basecaps. Die Kinder dort waren vorlaut und derb und kannten sich aus und rissen Witze, über die sogar Erwachsene lachten. So wie Bart Simpson. Und Bart war grausam. Zu einem wie Samuel, der ängstlich und dumm war und von nichts eine Ahnung hatte, würden sie grausam sein.
    »Samuel?«
    Samuel wandte den Kopf.
    »Amerika! Samuel! Denk doch mal darüber nach.«
    Samuel gab keine Antwort. Er dachte darüber nach.
    »Ein Mädchen aus meiner Klasse war für ein Jahr in Amerika, weißt du«, fuhr Theodora fort. »In Indianapolis.« Theodora genoss es, den Namen der Stadt auszusprechen, die magischen, fremdartigen Laute: Popocatépetl, Titicaca. »An ihrer Schule waren zweieinhalbtausend Schüler. Die mussten dort in Schichten hingehen. Ihre fing um sieben Uhr morgens an.«
    Samuels Mund klappte hörbar zu.
    »Das war natürlich eine öffentliche Schule«, überlegte Theodora laut. »Hoffentlich schicken sie uns an eine öffentliche Schule. Vielleicht gibt es in Philadelphia gar keine jüdischen Schulen.«
    »Vielleicht gibt es dort nicht mal Juden«, sagte Samuel leise.
    »Ach, Samuel.« Theodora klang verächtlich. »Juden gibt es überall. Sogar in Hongkong«, fügte sie hinzu, den Kopf zur Seite geneigt, während sie sich erinnerte. »Hat Randolph mir erzählt.«
    »Ich glaube, ich würde lieber nach Hongkong ziehen«, sagte Samuel noch leiser, »als nach Philadelphia.«
    Theodora ging darüber hinweg. »Sie

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