Der Kuss des Greifen
sie zum Wahrsagen benutzte. »Diese Menschen haben mehr Glück als Verstand, doch ein zweites Mal wird Tyche ihnen nicht hold sein.«
In der Oberfläche des Quellwassers spiegelten sich Ereignisse wider, die an einem anderen Ort geschahen. Ein Sturm tobte an der Südküste Siziliens, doch nirgendwo konnte Megaira das Schiff der Phönizier entdecken. Das Bild flackerte, verschwamm und zeigte einen anderen Ort. Die Tanith segelte unbescholten gen Ziz, wie die Erinye es befürchtet hatte. Hätte sie Sizilien umsegelt, wäre sie genau in den Sturm gekommen, der nun umsonst dort unten tobte.
Megaira fluchte leise. Es war zu spät, erneut einen Sturmzauber zu entfachen, ohne Zeus’ unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Zudem wollte sie einen weiteren Fehler vermeiden, der ihr so viele Kräfte kosten würde.
Sie riss ihre Arme in die Höhe. Ihre schwarzen Schwingen berührten die Höhlendecke. »Los, ihr Unheilsschwestern, teilt euch.« Sogleich wurden aus einem Schwarm fledermausähnlicher Traumschemen zwei nicht weniger dunkle. Mit bleicher Hand deutete Megaira auf den rechten. »Ihr bringt mir Nachricht von der im Meer Verschollenen.« Sie deutete nach links. »Und ihr bringt Verderben, Grauen und Wahn. Ihr kennt eure Ziele. Hinfort mit euch!«
Die Schwärme zogen davon durch eine Öffnung an der Höhlendecke. Megaira sah ihnen nach, wie sie über das Firmament zogen, die fledermausähnlichen Schemen, gewoben aus Dunst, Traum und Illusion.
In wenigen Stunden würde die Nacht hereinbrechen. Während der Dunkelheit war ihre Macht am stärksten. Die Erinye lachte, doch es klang verbittert, hasserfüllt und finster, so wie ihr Herz war.
Der Tag war bereits fortgeschritten, als die Tanith in den Hafen von Ziz glitt, den die Hellenen »Panhormos« nannten, was soviel bedeutete wie »der größte Hafen von allen«. Die Bucht wurde im Norden und im Osten von teilweise bewaldeten Bergen begrenzt. Zwischen ihnen erstreckte sich die Stadt Ziz und dahinter entdeckte Lysandra üppig bewachsene Haine.
»Zwei Nächte lang bleiben wir«, sagte Belzzasar zu ihr. »Sag niemandem, wie dein Name ist oder von wo du gebürtig bist, denn Hellenen sind hier in der Stadt nicht so gut angesehen seit den vielen Kriegen um Sizilien.«
Hiram grinste, was ihn noch attraktiver aussehen ließ. »Besuch die Orangenhaine im Hinterland und die Blumenwiesen, die Ziz ihren Namen verleihen. Das sollte man gesehen haben, wenn man schon mal hier ist.«
Damasos stand mit gekreuzten Armen an Bord und wirkte gar nicht gut gelaunt. »Ich jedenfalls bleibe an Bord«, sagte er.
»Ich sehe mir gerne die Orangenhaine an. Kann ich währenddessen ein paar Wertgegenstände bei dir hinterlegen?«, fragte Lysandra, die an Cels goldene Halsreifen dachte, die sie ungern mit in die Stadt nehmen würde, da sie einen Diebstahl befürchtete.
Hiram lächelte. »Keine Sorge, bei Belzzasar sind deine Sachen sicher. Lass uns nach der Löschung eines Teils der Ladung dorthin gehen. Es ist nicht allzu viel, da das meiste nach Karthago geht.« Hiram trat näher zu Lysandra. »Dort wird mein Bruder das Schiff wieder übernehmen. Mein Vater traut mir nämlich nichts zu. Daher hat er mir auch Belzzasar als Aufpasser mitgeschickt.« Er hatte seine Stimme gesenkt, sodass nur sie sie vernehmen konnte.
»Besser als gar keinen Vater zu haben«, sagte Lysandra leise.
Hiram nickte kaum merklich. »Das schon, doch manchmal betrübt es mich schon, dass mein Bruder immer bevorzugt wird.«
»Mir erging es ebenso.«
Hiram blickte sie an »Dir?« Er warf einen verstohlenen Seitenblick zu Damasos. »Dein Bruder ist auch älter als du, nicht wahr?«
»Er ist jünger als ich.«
Hiram starrte sie an. »Er sieht älter aus.«
»Ich weiß, dass er größer und kräftiger ist als ich.«
»Das wird schon noch. Wie alt bist du? Siebzehn? Achtzehn?«
»Letzteres.« Würde sie ihr wahres Alter preisgeben, gäbe dies nur Grund zu unerwünschten Spekulationen. In dem Alter war man nicht mehr so dürr.
»Eigentlich ist er nur mein Ziehbruder, da die Schwester meiner Mutter mich nach dem Tod meiner Eltern aufgenommen hat«, sagte Lysandra. »Ich habe auch eine jüngere Schwester, die ich kaum kenne.« Lysandra verspürte Wehmut bei dem Gedanken, so gut wie nichts über Hermióne zu wissen, nicht mal, wie diese inzwischen aussah.
»Wie alt ist deine Schwester?«
»Vierzehn.«
»Da wird sie gewiss bald heiraten.«
»Vielleicht ist sie es schon, wenn ich zurückkehre.«
Hiram
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