Der Kuss des Greifen
selbst in die Augen schauen kann. Du weißt nicht, was es bedeutet, kein richtiger Mann zu sein und doch auch keine Frau.«
»Was ich gesehen habe, ist eindeutig eine Frau.«
Erneut schüttelte sie den Kopf. »Du verstehst mich nicht.« Sie tauchte bis zum Hals ins Wasser ein.
»Doch, ich verstehe dich. Denkst du, ich habe die Worte der Häme nicht vernommen, die dein Bruder für dich hat? Den feigsten Mann von Delphoí nannte er dich. Doch sage mir: Ist jemand, der aus freien Stücken einem Drachen entgegentritt, feige?«
»Wohl nicht, doch Damasos würde mir erst dann glauben, dass ich beim Drachen war, wenn man meine Leiche vom Parnassós herunterträgt. Ich bin froh, dass du mehr siehst als die anderen. Nerea hat mir immer alles verboten: Ich durfte keine Frau sein, um ihre Zukunft zu sichern. Ich durfte kein Mann sein, um mein Leben oder die Maskerade nicht in Gefahr zu bringen. All dies diente ihren Zwecken.«
»Und wann tust du etwas für dich?«
»Jetzt«, sagte sie. »Nur dieses eine Mal. Ich will Erinnerungen sammeln für all die Jahre, die kommen werden.«
»Warum nur jetzt? Lebst du danach nicht mehr?«
Lysandras Gesichtszüge verhärteten sich. Ihre Augen waren nunmehr Schlitze. »Du verstehst mich doch nicht. Meine Eltern starben, als ich noch klein war. Nerea hätte mich nicht aufnehmen müssen. Mädchen sind entbehrlich. Oft werden sie ausgesetzt oder in die Sklaverei oder Prostitution verkauft. Doch sie hat mich aufgenommen und großgezogen wie ein eigenes Kind, nun ja, fast wie ein eigenes Kind.«
»Fast?«
»Als Damasos und später Hermióne geboren wurden, war ich ihr eher eine Last. Damasos war immer stärker und größer als ich und Hermióne viel schöner, zumindest in der kurzen Zeit, in der ich sie sehen durfte. Tag für Tag fühlte ich mich makelbehafteter. Ich weiß nicht, warum ich dir das überhaupt erzähle. Vermutlich, weil ich nie jemanden hatte, mit dem ich darüber reden konnte. Mit Hermióne wäre es vielleicht möglich gewesen, doch Nerea hat sie weitgehend von mir ferngehalten. Die Frauen haben bei uns eigene Gemächer. Normalerweise bekommt sie nur ihr Ehemann zu Gesicht.«
»Du hattest recht: Ich verstehe euch wirklich nicht. Die Männer meines Volkes kämen nie auf die Idee, ihre Frauen im Haus einzusperren.«
»Du würdest es nicht glauben, doch einige der hellenischen Frauen würden ihre Männer als unwürdig ansehen, wenn sie sie den Blicken anderer aussetzen würden.«
»Und du? Was denkst du darüber?«
»Ich bin aufgewachsen wie ein Mann und will diese Art der Freiheit nicht mehr aufgeben, selbst wenn es den Verzicht auf etwas anderes bedeutet.«
»Auf einen Mann, Kinder, eine eigene Familie und darauf, eine Frau zu sein?«
Ihr Gesicht war plötzlich schmerzverzerrt. Sie blinzelte. Cel tat es leid, dass er eine Wunde in ihr aufriss, die wie es aussah, niemals heilen würde – nicht, solange sie keinen anderen Weg für ihr Leben sah.
Doch war er der Richtige für sie? Er, der sich geschworen hatte, niemals mehr nach Delphoí zurückzukehren, wo man ihm so viele Male nach dem Leben getrachtet hatte, sowohl in seiner Gestalt als Mann als auch der des Greifen. Doch selbst wenn er mit ihr in diese Stadt zurückkam, würden die Bewohner Delphoís Lysandra nicht gering schätzen, wenn sie ihre wahre Identität offenlegte? Und welche Folgen hätte es für ihre Familie, an der sie offenbar so sehr hing?
»Kannst du dich nicht auch aus der Ferne um Nerea kümmern? Du könntest beispielsweise in einer anderen hellenischen Stadt leben. Es muss ja nicht weit von ihr entfernt sein.«
»Nein, denn ich habe ihr einen Schwur geleistet. Ich muss zurück nach Delphoí.« Lysandra drehte sich halb von ihm weg. »Wenn du mir nicht den Rücken zuwendest, so gehe wenigstens spazieren, damit ich mich fertig waschen kann.«
Statt zu antworten, kam Cel auf sie zu. Er watete ins Wasser, da er sich dadurch eine Abkühlung seines nicht nur aufgrund der sommerlichen Temperaturen erhitzten Leibes erhoffte. Doch er irrte sich. Die Wellen, die seinen Körper umspülten wie die Berührungen zahlreicher Hände, verstärkten das Problem nur.
Cel kam auf sie zu. Sein Leib war die pure Perfektion: leicht gebräunte Haut, umspielt vom Sonnenlicht. Der Wind zog an seinem langen Haar. Unweigerlich wanderte Lysandras Blick tiefer. So hatte sie einen Mann noch niemals gesehen, groß und hart dort unten. Doch musste man vollständig unwissend sein, um die Bedeutung dessen nicht zu
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