Der Kuss des Meeres
Kabinentür gekritzelt ist, leuchtet auf dem Display auf. In Emmas Handschrift.
Die Wellen teilen sich, als er durchs Wasser pflügt und eine schaumige weiße Linie auf der Oberfläche zurücklässt. Als er ein Boot am Horizont sieht, taucht er unter und legt sich so mächtig ins Zeug, dass er vielleicht nicht einmal auf ihrem Fischradar auftaucht, falls sie einen haben.
Das ist schon seine zweite Schwimmtour nach Europa und zurück innerhalb einer Woche. Da morgen Freitag ist, wird er wahrscheinlich noch einmal eine unternehmen. Aber ganz gleich, wie weit er schwimmt, ganz gleich, wie schnell, seine Anspannung lässt ihn nicht los. Und es ändert nichts an der Tatsache, dass Emma mit einem anderen geht.
Er spürt andere Syrena im Wasser, aber er erkennt sie nicht. Außerdem ist er nicht in der Stimmung für Small Talk. Tatsächlich ist ihm seine Einsamkeit im Moment wichtiger als seine nächsten fünf Mahlzeiten. Der Versuch, durch die Flure in der Schule zu navigieren, war ungefähr so, als würde man mit Wanderstiefeln voller Steine durch die Flut waten– die Menschenfrauen haben den Verstand verloren. Sie haben sich wie eine Welle um ihn geschlossen und nach ihm gegriffen, sie haben einander überschrien und sich Dinge an den Kopf geworfen, die bedeuteten, dass man sich mit mehr als einem Mann paart– ziemlich oft. So hat es ihm dann zumindest Rachel später erklärt. Sie waren sich nur dann einig, wenn er versucht hat, in die Männertoilette zu entkommen– oder wenn er sich bemüht hat, Emmas Richtung einzuschlagen.
Aber er hat nicht nur von den Menschen genug– in dieser Stimmung wäre es für keinen Syrena ratsam, ihn zu einem Gespräch zu nötigen. Dabei würde natürlich jeder Passant gerne erfahren, was ein Königssohn so weit entfernt von den Höhlen treibt. Die Antwort, die er momentan geben würde, würde seinem Bruder bestimmt nicht die Unterstützung einbringen, die er als neuer König braucht. Außerdem würde er seinen Vater damit vielleicht doch noch dazu bringen, seine Drohung wahr zu machen, ihm die Zunge herauszuschneiden. Und ohne Zunge vor Emma zu Kreuze zu kriechen, wäre ziemlich lästig.
Mit knirschenden Zähnen treibt er sich noch härter an und peitscht schneller durch das Wasser als jeder von Menschenhand geschaffene Torpedo. Erst als er das erreicht, was die Menschen den Ärmelkanal nennen, wird er langsamer und kommt an die Oberfläche. Als er sich einem Fleckchen Land nähert, das er erkennt, hat er nicht einmal ein halbes Lächeln für den neuen persönlichen Rekord übrig. Von New Jersey nach Jersey Island in weniger als fünf Stunden. Die dreitausend Meilen Entfernung, die er heute Nacht zwischen sich und Emma gebracht hat, sind nichts im Vergleich zu der gewaltigen Kluft, die sie trennt, wenn sie in der Mathestunde nebeneinandersitzen.
Emmas Fähigkeit, durch ihn hindurchzusehen, ist eine echte Gabe– aber keine, die sie von Poseidon geerbt hat. Rachel beharrt darauf, dass diese Gabe eine typisch weibliche Eigenschaft ist, ungeachtet der Spezies. Aber Emma scheint das einzige Mädchen zu sein, das seit ihrer Trennung diese spezielle Gabe nutzt. Selbst Rayna könnte einige Lektionen von Emma lernen, wenn es um die Kunst geht, einen verknallten Jungen zu quälen. Verknallt? Eher fanatisch.
Er schüttelt angewidert den Kopf. Warum konnte ich nicht einfach mit dem Sichten beginnen, als ich volljährig wurde? Warum konnte ich kein passendes, sanftmütiges Mädchen finden, um mich zu paaren? Ein friedliches Leben führen, Nachkommen produzieren, alt werden und beobachten, wie meine Jungfische selbst Jungfische bekommen? Er durchforstet sein Gedächtnis nach einer, die ihm in der Vergangenheit entgangen sein könnte. Nach einem Gesicht, das er übersehen hat, auf dessen Wiedersehen er sich jetzt aber jeden Tag freuen könnte. Nach einem gutmütigen Mädchen, das sich geehrt fühlen würde, sich mit einem Tritonprinzen zu verbinden– anstelle einer temperamentvollen Sirene, die seinen Titel bei jeder Gelegenheit verspottet. Er durchforstet sein Gedächtnis nach einer lieben Syrena, die sich um ihn kümmern würde, die tun würde, was er verlangt, die niemals mit ihm streiten würde.
Nicht irgendein von Menschen großgezogener Syrena-Schnipsel, der mit dem Fuß aufstampft, wenn er seinen Willen nicht bekommt, der nur auf ihn hört, wenn es einem geheimen Ziel dient, das er verfolgt, oder ihm eine Handvoll Zitronenbonbons in den Hals stopft, wenn er einen Moment lang nicht
Weitere Kostenlose Bücher