Der lange Schatten
genau auf dem Weg lag, machte gerade dicht. Die dralle Wirtin hatte bereits die Stühle auf die Tische gestellt und schloss nun die Tür ab. Als sie ihn sah, winkte sie ihm kurz zu. Er tat so, als bemerkte er es nicht. Seine Haare waren vom Regen klatschnass und klebten ihm am Kopf. In einem Hauseingang blieb er stehen und sondierte vorsichtshalber das Terrain um die Métrostation. Ein paar Leute kamen aus dem Schacht, klappten ihre Regenschirme auf, anderen eilten nach unten auf die Bahnsteige.
Leichtfüßig sprang er die Treppen hinunter. Er ließ den Eingang zur Linie 2, die die Linie 11 hier kreuzte, links liegen und ging zum Bahnsteig der Linie 11, Richtung Châtelet. Dort warteten nur wenige Menschen, der nächste Zug sollte erst in fünf Minuten einfahren. Auf einer der Plastikbänke lag ein Clochard und schlief. Das Bündel mit seinen Siebensachen hatte er sich auf den Bauch gelegt und hielt es mit beiden Händen umklammert. Kräftige Schnarchtöne hallten über den Bahnsteig, aus seinen Mundwinkeln floss Speichel.
Er spähte nach rechts und links. Niemand beachtete ihn. Vor dem Abfallkorb am Ende des Bahnsteigs blieb er stehen. Er kramte mit der Hand in den Abfällen, bis er etwas Passendes entdeckte, das seinen Zweck erfüllte.
Ganz bewusst hatte er diese Métrostation gewählt. Den Bahnsteig und die Ausgänge kannte er wie seine Westentasche. Ein prickelndes Gefühl durchströmte ihn. Spannung stieg in ihm auf, Jagdfieber. Er liebte die Gefahr, insbesondere, wenn sie von ihm selbst ausging. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht verließ er den Bahnsteig.
Nach zehn Minuten Fahrt hielt der Zug an der Station Belleville. Fieberhaft hatte LaBréa in der Zwischenzeit überlegt, was in dem Abfallkorb auf dem Bahnsteig liegen mochte? Verschiedene Horrorszenarien fielen ihm ein und lösten beunruhigende Gedanken in ihm aus. Es gab Fälle, da hatten Geiselnehmer ihren Opfern ein Ohr abgeschnitten, um ihrer Forderung nach Lösegeld Nachdruck zu verleihen. Oder einen kleinen Finger abgetrennt. Was hatte Célines Entführer sich ausgedacht?
Sobald LaBréa den Zug verlassen hatte, waren all seine Sinne geschärft. Der Abfallkorb befand sich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, von wo aus die Züge dorthin fuhren, wo LaBréa soeben herkam: Richtung Châtelet.
Einige Menschen waren mit ihm ausgestiegen. Eine junge Schwarze schleppte riesige Einkaufstüten. Ihr schlurfender, schwerer Gang war der einer Frau, die den ganzen Tag hart gearbeitet hatte. Den Blick gesenkt, ging sie in Gedanken versunken zum Ausgang. Ihre großen, silbernen Ohrringe klirrten bei jedem ihrer Schritte.
Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig standen einige Fahrgäste und warteten auf den Zug. LaBréa entdeckte niemanden, auf den die Beschreibung des Geiselnehmers zutraf. Die Menschen in der Bank hatten zwar sein Gesicht nicht gesehen, ihn aber von der Statur her sehr genau beschrieben. Was hatte LaBréa erwartet? Dass der Mann seelenruhig hier irgendwo herumstand und Ausschau nach ihm hielt? Der Kerl war sicher längst über alle Berge. Dennoch wusste LaBréa, dass er vorsichtig sein musste.
Er bog in den Gang ein, der auf den gegenüberliegenden Bahnsteig führte. Dicht hinter ihm folgte ein älterer Mann. Ein Teenager-Pärchen, kaum älter als siebzehn Jahre alt und eng umschlungen, tänzelte hinter ihnen her. Das Mädchen kicherte, ihr Freund, ein breitschultriger Schwarzer mit Schlabberklamotten und schief aufgesetzter Baseballkappe, flüsterte ihr etwas ins Ohr und küsste sie im Gehen. Die beiden überholten LaBréa und erreichten vor ihm den Bahnsteig.
Unauffällig blickte LaBréa sich um. Am Ausgang Rue Bonnet, am anderen Ende des Bahnsteigs, entdeckte er den Abfallkorb. Er wartete einige Minuten, bis der nächste Zug einfuhr, Menschen aus- und einstiegen und der Bahnsteig sich leerte. Dann ging er mit raschen Schritten zum Abfallkorb und durchsuchte ihn. Neben einer leeren Coladose, einem alten Stück Baguette, gebrauchten Papiertaschentüchern und einer zerdrückten Styroporverpackung entdeckte er die Papiertüte einer Bäckereikette. Er öffnete sie und spähte vorsichtig hinein. Dann nahm er ein Papiertaschentuch aus seiner Hosentasche, um seine Finger zu schützen. Erst dann zog er den Inhalt der Tüte heraus.
Ein farbiges Polaroidfoto.
Es zeigte Céline, die ein Exemplar der Tageszeitung Le Figaro hochhielt. Ihre Augen waren aufgerissen und voller Angst, die Pupillen glänzten rot, eine Folge des Blitzlichts. LaBréa
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