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Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home

Titel: Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danielle Steel
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Gabriella erzählt, aber sie war ihnen in der Woche seit ihrem Einzug noch nie begegnet. »Und was wollen Sie jetzt tun, junge Dame?« Etwas schäbig gekleidet, mit dichtem weißem Haar, sah er wie ein exzentrischer alter Professor aus. Gabriella schätzte ihn auf achtzig. Aber er besaß immer noch seinen scharfen Verstand, und aus seinen blauen Augen strahlte ein unverwüstlicher Humor.
    »Ich habe einen Job in einem Lokal an der Eighty-sixth Street bekommen«, erzählte sie triumphierend. Diesen Erfolg hatte sie dringend gebraucht. »Morgen fange ich an.«
    »Hoffentlich ist das eins dieser gemütlichen Etablissements, wo man guten Kuchen essen kann. Mrs Rosenstein und ich werden Sie mal besuchen, wenn wir in diese Gegend kommen.« Die Vergangenheit der alten Jüdin, die fast genauso lang in Mrs Boslickis Pension wohnte wie er, faszinierte ihn. Vor achtzehn Jahren war seine Frau gestorben. Damals hatte er sein Apartment aufgegeben und war in dieses Haus übersiedelt. Jetzt lebte er von seiner kleinen Rente. Er hatte keine Verwandten und genoss die Gesellschaft der Pensionswirtin und ihrer Gäste. Über Gabriellas Ankunft freute er sich ganz besonders. Später sollte er seinen alten Gefährten mitteilen, sie habe das Gesicht eines Engels und besitze eine natürliche Eleganz.
    Aber nun fragte er erst einmal, was sie im Columbia College studiert habe. Dann verwickelte er sie in eine lange Diskussion über die Romane, die sie gelesen hatte. Als sie erwähnte, sie habe selber Geschichten, Novellen und Gedichte verfasst, hob er interessiert die Brauen. Doch sie fügte bescheiden hinzu, niemand würde ihre Werke lesen wollen. Sie glaubte, sie hätten nur den Nonnen gefallen, die sie liebten. Doch das verschwieg sie dem Professor. Natürlich hatte auch Joe einige ihrer Geschichten gekannt und ihre Begabung gelobt. Aber er hatte sie ebenfalls geliebt.
    »Eines Tages würde ich mir gern ansehen, was Sie geschrieben haben«, bemerkte der Professor, und sie lächelte schüchtern.
    »Leider habe ich nichts bei mir.«
    »Woher kommen Sie?« Mit einer so liebenswürdigen jungen Dame hatte er sich schon lange nicht mehr unterhalten. Er fand dieses Gespräch, das ihn an Harvard erinnerte, sehr erfrischend. Von begeisterungsfähigen jungen Leuten ging eine belebende Kraft aus, die ihn immer noch inspirierte. Am liebsten hätte er stundenlang mit Gabriella geplaudert.
    »Aus Boston«, antwortete Mrs Boslicki, weil Gabriella in plötzlicher Nervosität zögerte. Nachdem er in dieser Stadt Unterricht gegeben hatte, würde er sie natürlich sehr gut kennen.
    Um ihn abzulenken, erklärte sie: »Meine Mutter lebt in Kalifornien – und mein Vater in Boston.«
    »Wo in Kalifornien?«, fragte eine der alten Frauen, deren Tochter in Fresno wohnte.
    »In San Francisco«, entgegnete Gabriella in beiläufigem Ton und erweckte den Eindruck, sie hätte erst vor ein paar Tagen mit ihrer Mutter telefoniert.
    »Zwei schöne Städte«, bemerkte Professor Thomas und beobachtete ihre Augen. Irgendetwas an ihr berührte ihn – eine eigenartige Melancholie. Offenbar war sie sehr einsam. Mrs Boslicki würde behaupten, das Mädchen habe einfach nur Heimweh. Aber Professor Thomas spürte, dass mehr dahinter steckte – eine beklemmende Tragödie.
    Eine Zeit lang unterhielt sie sich noch mit den Gästen, dann ging sie nach oben – mit frischen Handtüchern, die Mrs Boslicki ihr gegeben und für die sie sich höflich bedankt hatte.
    »Was für ein nettes Mädchen«, meinte Mrs Rosenstein.
    Eine Frau erklärte, Gabriella würde sie an ihre Enkelin erinnern, die in Kalifornien lebte. »Sehr gut erzogen. Wahrscheinlich hatte sie wundervolle Eltern.«
    »Nicht unbedingt«, widersprach Professor Thomas. »Einige meiner besten Studenten stammten aus zerrütteten Familien. Man kann nie wissen, welch mysteriöse Dinge im Pool der Gene passieren.«
    Hätte Gabriella diese Worte gehört, wäre sie maßlos erleichtert gewesen. Seit Jahren fürchtete sie, in ihrer Persönlichkeit Wesenszüge ihrer Mutter zu entdecken. Bis jetzt hatte sie zum Glück keine gefunden.
    »Jedenfalls ist Miss Harrison ein reizendes Mädchen«, fahr der Professor fort, »und ich hoffe, sie bleibt noch lange bei uns.«
    »Ganz bestimmt«, erwiderte Mrs Boslicki, »nachdem sie endlich einen Job bekommen hat ... Soviel ich weiß, hat sie keine Freunde in New York. Und ihre Eltern haben in dieser letzten Woche kein einziges Mal angerufen. Sie fragt auch nie, ob eine Nachricht für sie

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