Der letzte Engel (German Edition)
in die Luft streckte. Er war der Sieger. Er hatte seine Eltern noch nie gemocht. Sie waren ihm lästig. Lars kam gut alleine klar.
»Aber«, sprach er weiter und flüsterte plötzlich, »Alter, war das lässig oder was?«
Ich kicherte jetzt auch.
»Das war echt lässig«, flüsterte ich zurück.
»Nächstes Mal finden wir sie.«
Ich sagte nichts, ich kicherte nicht, ich hatte vergessen, weswegen wir überhaupt losgezogen waren. Der Meister des Verdrängens hatte selbst das verdrängt.
»Motte, hörst du mich noch?«
»Ich höre dich.«
»Du darfst nie aufgeben, Mann.«
Ich spürte, wie mir schon wieder die Tränen kamen.
»Sie ist irgendwo da draußen«, sprach Lars weiter, »also darfst du sie nicht aufgeben, denn das ist so, als ob du mich aufgibst oder ich dich, und das machen wir nie, versprochen?«
»Versprochen.«
»Sag, dass wir sie finden.«
»Wir finden sie. Lars?«
»Ja?«
»Danke.«
DER KONTAKT
K ann ich mal sehen?«
Mona öffnet den Rucksack und reicht Lars Die Historie der Familie . Er fährt mit den Fingern über die Titelschrift und das Wappen, dann schlägt er das Buch auf und hält es ein wenig schräg, damit das Licht des Feuers auf die Seiten fällt.
Sie sitzen jetzt seit einer guten Stunde am Wannsee, es ist noch immer Samstagabend, und sie füttern die Flammen mit Ästen und warten, dass Motte kommt. Esko glaubt nicht mehr wirklich daran. Er hat Lars von den Anfängen der Familie erzählt, weil er findet, dass ein Begleiter informiert sein muss, außerdem war es die einfachste Art, Lars zum Schweigen zu bringen.
»Mit dem Auftauchen von Barthom van Leeuwenhoek«, sagt Esko, »änderte sich das gesamte Vorhaben der Familie. Sie hatten ein neues Ziel, sie wollten die Engel wiedererwecken, und sie hatten den Schlüssel, auch wenn sie noch nicht wussten, wie sie ihn anwenden sollten.«
Lars pfeift anerkennend.
»Also haben sie einen auf Gentechnik gemacht«, sagt er.
»In Ansätzen, aber es waren eben nur Ansätze. Sie begannen zu experimentieren.«
»Jetzt mal ehrlich«, sagt Lars und klappt das Buch zu, »es muss sich doch komisch anfühlen, in die Gegenwart verschleppt zu werden und zu erfahren, dass sich jemand den Spaß gemacht hat, mit deiner DNA über Tausend Kinder zu zeugen.«
»Du siehst mich nicht lachen«, sagt Esko.
Auch wenn es der Engel nicht zeigt, ist die Gegenwart ein wenig zu viel für ihn. Das Tempo, die Technik und der Lärm. Es geht ihm zwar alles leicht von der Hand, dennoch hinkt sein Bewusstsein hinterher und versucht den Informationsrausch zu verdauen. Es hilft, Jean-Lucs Erinnerung zu haben. Dennoch gibt es vor jeder Handlung ein kurzes Zögern. Als sich Esko in Jean-Lucs Auto gesetzt hatte und losgefahren war, als er das Handy bediente, selbst wenn Esko spricht, sind da Momente, in denen er sich sprechen hört und sich wundert, woher die Worte kommen.
Dann sind da noch die Wunden.
Es ist eine Überraschung gewesen, dass sich die Schmerzen im Jetzt nicht so schlimm anfühlten. Als er vor Königin Theia gekniet hatte, war sein Körper am Ende gewesen, als er vor Mona in dem Zimmer auftauchte, fühlte er sich zwar erschöpft, aber nicht so elendig, dass er sterben wollte. Es hat auch sehr geholfen, dass der Archivar den Großteil der Wunden verbunden hatte, nur eine Verletzung lässt sich durch nichts heilen.
Esko fehlen seine Flügel. Sie sind immer ein Teil von ihm gewesen und er vermisst sie schmerzlich. Und das ist schlimmer als der übertriebene Informationsfluss, das ist schlimmer, als verwundet auf der Erde zu liegen. Während er mit Mona und Lars am Feuer sitzt und auf Motte wartet, möchte er sich am liebsten im Sand zusammenrollen und einschlafen. Nur die Hoffnung hält ihn aufrecht. Sie ist einfach, sie ist albern, aber er kann sie nicht aus seinem Denken verdrängen – vielleicht sind seine Flügel noch im Besitz der Familie, vielleicht gibt es für ihn eine Rettung.
»Und die Bruderschaft?«, fragt Lars. »Wer sind sie? Die böse Macht im Hintergrund?«
»Wir wissen es nicht«, sagt Esko. »Es steht kaum was über sie in der Historie und Jean-Luc hatte auch nicht mehr Informationen über sie. Nur dass die Bruderschaft die großen Feinde sind, das wurde ihm schon als Kind beigebracht.«
»Und steht was über Motte in dem Buch?«
»Er gehört zur letzten Generation der Jungen«, sagt Esko.
»Macht dich das zu seinem Onkel oder so?«
»Oder so«, sagt Esko und erinnert sich noch sehr gut, wie es gewesen war, ein Engel zu werden.
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