Der letzte Engel (German Edition)
sagen, ich habe einige Ohs zu hören bekommen.«
»Danke.«
»Gern geschehen. Ist der Engel noch an deiner Seite?«
Mona schweigt. Esko zuckt es in den Fingern, sich das Handy zu greifen.
»Sag ihm, wir freuen uns sehr, ihn kennenzulernen«, spricht die Stimme weiter. »Wie sieht es denn bei euch aus? Denkst du, wir könnten uns jetzt treffen?«
»Jetzt?«
»Wir sind gleich bei euch, falls dieser Idiot uns nicht vorher umbringt.«
»Jetzt?«, wiederholt Mona, als wäre Jetzt eine Unmöglichkeit der Zeit.
Sie bekommt keine Antwort, der Anruf ist beendet.
»Es ist nett, dass mich jemand kennenlernen will«, sagt Esko.
»Wer war das?«, fragt Lars.
»Ich glaube, das war meine Familie«, sagt Mona.
Aus der Ferne erklingt ein Plätschern, dann ein Fluchen. Sie schauen übers Wasser, das Plätschern wird lauter und von der anderen Uferseite bewegt sich ein Ruderboot im leichten Zickzackkurs auf sie zu. Das Boot gleitet ins Mondlicht und schält sich aus der Dunkelheit, wie eine Larve, die in die Freiheit will.
»Seh ich das wirklich?«, fragt Lars.
»Du siehst das wirklich«, sagt Esko.
Vier Gestalten sind im Boot zu erkennen, nur eine davon steht und steuert das Boot wie eine Gondel auf sie zu.
»Wir könnten wegrennen«, schlägt Lars vor.
»Ich denke, wir bleiben«, sagt Esko und bereut es mal wieder sehr, sein Schwert in der Culmer Street gelassen zu haben.
DER ZAR
K aum jemand nennt ihn noch den Zaren. Ein wenig liegt es daran, dass er aufgehört hat, für die Welt zu existieren. Er ist kein Geist, er ist ein Mensch, der nicht mehr sein sollte, und das macht ihn dann doch ein wenig zu einem Geist. Dasselbe trifft auch auf die Gräfinnen und Kolja zu, den der Zar 1798 angeblich mit einer Ballerina gezeugt haben soll und der sich nach über zweihundert Jahren immer noch grämt, nicht als rechtmäßiger Erbe des Zaren akzeptiert zu werden. Als könnte sich der Zar an jede Ballerina erinnern, die ihm über den Weg gelaufen ist.
An diesem Freitagabend acht Stunden vor Mottes Tod wünschte sich der Zar nicht zum ersten Mal, sie alle loszuwerden. Er wollte die Flügel in ein Taxi laden und verschwinden. Er wollte für eine Woche in einem Hotel unterkommen, die Friedrichstraße rauf und runter promenieren, und wenn er dann zum Schluss genug vom Promenieren hatte, wollte er in die Villa zurückkehren und sie alle tot vorfinden und endlich seinen Lebensabend in Ruhe genießen.
Die Regeln des Überlebens sind recht einfach: Ein Tag ohne die Nähe der Flügel ist kein großes Problem, besonders nicht, wenn man jung ist. Eine schleichende Sehnsucht setzt ein, die mit der Zeit schlimmer wird und irgendwann verglüht, bis nur ein hallendes Echo von Einsamkeit übrig bleibt. Ein Loch, das niemand füllen kann. Mit ansteigendem Alter wird das aber anders. Der Körper beginnt sich auf die Flügel zu verlassen. Sie werden seine Energiequelle, sie werden sein Licht. Im Alter setzt die Erschöpfung ohne die Nähe der Flügel schon nach einem Tag ein, die Körperfunktionen fahren langsam runter und das System bricht zusammen.
Die Gräfinnen erlebten diesen Zustand das erste Mal am eigenen Leib, als Pia ihren achtzigsten Geburtstag feierte und auf die dumme Idee kam, mit Natascha für zwei Tage eine befreundete Schriftstellerin in dem hundert Kilometer entfernten Künstlerdorf Obrinska zu besuchen. Eine unerträgliche Müdigkeit befiel die Damen schon am ersten Abend und die Sehnsucht nach den Flügeln raubte ihnen den Schlaf. Kaum war der neue Tag angebrochen, befanden sie sich schon auf der Rückreise und erreichten ihr Zuhause in einem vollkommen erschöpften Zustand. Auch der Zar hatte dieselbe Erfahrung gemacht: Abstand war nicht gut. Aus diesem Grund blieb der harte Kern der Familie zusammen und trennte sich nicht.
Die Flügel sind alles, was ihnen geblieben ist.
Yves Romain hat bis zu seinem relativ peinlichen Tod im Jahre 1952 vergeblich versucht, die Federn in die Experimente einzubeziehen. Der Rest der Familie hat sich vehement dagegen gewehrt. Es ist Blasphemie, die Flügel zu benutzen. Es ist überhaupt Blasphemie, sie schief anzusehen. Besonders nach dem Fiasko.
Die Familie war am Ende des 19. Jahrhunderts in voller Blüte. Sie hatten zehn Laboratorien und weltweit vierzig Häuser für die Jungen errichtet. Die Häuser der Mädchen waren nach den Misserfolgen der Vorjahre auf eines reduziert worden und wahrscheinlich hätte man sie ganz geschlossen, wenn die Gräfinnen sich nicht dagegen ausgesprochen
Weitere Kostenlose Bücher