Der letzte Engel (German Edition)
hätten. Sie glaubten an die Mädchen und so kam das Haus der Kormorane unter ihre Schirmherrschaft.
Aber zurück zum Fiasko, wie es der Zar getauft hatte.
Silvester 1899 wurde groß gefeiert und mitten in diesen Feierlichkeiten verschwand Barthom van Leeuwenhoek und stahl zwei der Flügel. Die Familie hat ihn nie wiedergesehen. Es gab Vermutungen, dass er in die Hände der Bruderschaft gefallen war, aber der Zar glaubt das nicht. Er glaubt, dass van Leeuwenhoek sich auf die Bahamas abgesetzt hat, seine uralte Haut von der Sonne bräunen lässt und jedes Silvester ein Glas auf die Familie erhebt. Er gönnt es ihm. Er hat van Leeuwenhoek immer gemocht.
Nachdem die letzten Knochen 1994 für die Experimente aufgebraucht wurden, waren der Familie nur zwei der Flügel geblieben. Jeden Tag verbrachten die Gräfinnen eine Stunde in ihrer Nähe. Der Zar konnte es ihnen ansehen. Sie strahlten danach eine Energie aus, die fast unheilig war. Dem Zar selbst reichten ein paar Minuten am Tag. Er berührte die Flügel, ließ seine Hand auf dem Gefieder liegen und zwang sich dann, aufzustehen, weil er wusste, dass die Sehnsucht zu groß werden konnte. Aus den Minuten konnten dann Stunden und schließlich Tage werden. Der Zar hatte Angst vor dieser Sehnsucht.
Die Flügel waren heilig, und niemand dachte daran, ihre Heiligkeit anzutasten. Dennoch überlegte der Zar immer öfter, sich die Truhe unter den Arm zu klemmen, ein Taxi zu rufen und diesem ganzen Unsinn ein Ende zu machen.
Den Großteil der Zeit war der Zar für sich. Seitdem es keine Laboratorien mehr gab und die Forschung zum Stillstand gekommen war, hatte sich auch sein Leben beruhigt. Er konnte mit dem ganzen wissenschaftlichen Kram eh nie viel anfangen. Der Zar ist mehr dem Spirituellen zugeneigt, und das hat der Familie vom ersten Tag an nicht gepasst, obwohl sie sein Geld gerne nahmen. Er hatte sich nie beschwert. Er war keiner von der Sorte, die über ein Geschenk wie das ewige Leben meckerten. Der Zar war ein zufriedener Mensch, auch wenn ihn seine Gedankengänge allmählich ermüdeten und der Körper wie gegen einen unsichtbaren Gegner ankämpfen musste, um den Verfall aufzuhalten. Die Flügel können eine Menge, doch das Fleisch hat seine Grenzen.
Aber der Zar dachte nicht daran, aufzugeben.
Alles ist besser, als nicht zu sein.
Immer öfter kam es vor, dass der Zar auf der Terrasse saß und auf das Wasser schaute und sich vorstellte, am Stettiner Haff zu sein. Seine Mutter wurde dort geboren, und wann immer er zu ihren Füßen spielte, erzählte sie von den vielen Onkeln und Tanten, deren Namen er immer vergaß. Seine Mutter kam aus einer großen Familie mit zwölf Kindern. Der Zar selbst hatte nur drei jüngere Brüder, und außer ihm war keiner von ihnen jemals nach Stettin gereist, um die Geburtsstadt der Mutter zu ehren.
»1783«, seufzte der Zar. »Was war das nur für ein goldenes Jahr!«
Und wenn er so in dieser Erinnerung versank, passierte es immer wieder, dass ihn das dröhnende Geräusch eines sich im Anflug befindenden Flugzeuges aus den Gedanken riss. Und dann saß er wieder am Tegeler See in einem Lehnstuhl und verflucht den Flughafen und die gesamte Stadt und wünschte sich, er hätte Russland nie verlassen.
Seitdem der Hüter mit dem Jungen in Berlin lebte, hatte sich die Familie entschieden, in seiner Nähe zu sein. Der Zar war dagegen gewesen. Er wusste nicht, was das sollte. Der Junge war einer von vielen Jungen, und auch wenn er der letzte ihrer Art war, würde er genauso wie die anderen qualvoll sterben. Und dann würden sie zu seiner Beerdigung fahren und dann würden sie eine weitere Enttäuschung unter die Erde bringen.
Der Zar war froh, dass das alles bald ein Ende hatte. Der Junge war jetzt sechzehn, drei Jahre zogen schnell vorüber. Und manchmal gibt es Leute, die sich wünschen, dass es schneller geht, dachte der Zar und schämte sich nicht für den Gedanken. Er war unglücklich in Berlin, die Stadt war nicht Heimat und sie war ganz besonders nicht Petersburg. Der Junge war das Einzige, was die Familie in Deutschland hielt. Also hat der Zar versucht, ihn vor einem Jahr loszuwerden.
Obwohl der Kern der Familie über die Jahrzehnte hinweg mehr und mehr dezimiert wurde, gibt es noch immer unzählige Patrioten, die über die ganze Welt verstreut sind und ihnen die Treue halten. Sie sind nie mit den Flügeln in Kontakt gekommen, sie sind Gläubige der eigenen Art und Anhänger des Zarentums. Einmal im Jahr reisen sie nach Berlin
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