Der letzte Engel (German Edition)
zur weihnachtlichen Audienz, spenden großzügig und diskutieren das Weltgeschehen, was dem Zaren ungelogen sehr am Arsch vorbeigeht. Aber die Fassade muss gewahrt werden, Alter ist keine Entschuldigung und der Zar eben der Zar.
Einer dieser treuen Anhänger ist Alexei Bos Mattek, ein sechsunddreißigjähriger Computerspezialist aus Moskau. Er ist unbestritten der größte Fan des Zaren. Schon Alexeis Vater, sein Großvater und natürlich sein Urgroßvater haben dem Zaren die Treue geschworen. Jeder von ihnen wurde Alexander mit Vornamen getauft, jeder von ihnen ließ sich Alexei nennen, um nicht mit dem Zaren in Konkurrenz zu treten.
Zum Ersten jeden Monats überweist Alexei die Hälfte seines Gehaltes auf das Konto der Familie. Seitdem der Zar in Berlin residiert, hat Alexei in einem Abendkurs Deutsch gelernt und dem Zaren so manche Redewendung beigebracht. Wöchentlich verschickt er aus der Heimat Pakete mit Spezialitäten, und er hat sein großes Idol sogar dazu überredet, mit ihm zu skypen.
Wer so einen Bewunderer hat, muss ihn ab und zu benutzen, sonst ist das verschenktes Talent , dachte sich der Zar im letzten Herbst und bat Alexei über Skype um Hilfe.
»Du musst jemanden aus dem Weg räumen«, flüsterte er eines späten Abends in die Kamera. »Dein Zar will nach Hause zurückkehren.«
Am Tag darauf saß Alexei im Flieger, drei Stunden später betrat er ein Waffengeschäft in Berlin und war vollkommen verwirrt, dass er nicht mal so eben eine Schusswaffe kaufen konnte. Bis zu dem Tag dachte er, in Berlin wäre alles möglich. Er entschied sich notgedrungen für einen Tomahawk und machte sich auf den Weg, den Wunsch des Zaren zu erfüllen. Es war Herbst, die Luft hatte diesen feinen, beißenden Unterton, der einen wohlig erschauern lässt. Alexei folgte dem Jungen und seinem Freund in einen Park. Er sah, wie sie auf einer Bank rumalberten, er wartete zwanzig Minuten und beschloss dann, der Moment sei gekommen. Alexei war kein böser Mensch, er war einfach nur ein Fanatiker der obersten Klasse, und der Gedanke, den Zaren durch einen einfachen Mord in die Heimat zurückzuholen, ließ ihn auf die zwei Jungen zurennen.
»Für den Zaren!«, rief er und zog den Tomahawk unter seinem Mantel hervor.
Ein Dobermann rettete dem Jungen das Leben. Alexei kehrte mit einer Bisswunde am Arm nach Moskau zurück und hat es seitdem nicht mehr gewagt, nach Berlin zu reisen. Selbst der weihnachtlichen Audienz blieb er fern. Der Zar hat den Fehlversuch nie angesprochen. Sie skypen und spielen Schach miteinander, als wäre nichts geschehen. Für einen Außenstehenden sieht es sehr danach aus, als hätte sich der Zar mit seinem Schicksal abgefunden. Aber wenn der Zar an diesem Freitagabend gewusst hätte, dass dem Jungen nur noch acht Stunden Lebenszeit blieben, wäre er garantiert tanzend durch die Villa gelaufen und hätte seinen Koffer gepackt.
An frostigen Tagen vor dem Kaminfeuer mit einem Becher Tee zwischen den Händen und den Füßen in dicken Wollsocken, dachte der Zar unweigerlich über sein Leben und das Ende der Familie nach. Es waren ihrer nicht mehr viele. Nur der Zar, die Gräfinnen und der Diener waren übrig geblieben. Erik Hakonson zählte so wenig zum harten Kern wie der Archivar. Sie waren alle viel zu jung, als dass sie den Wert der Flügel zu schätzen wussten. Der Zugang zum Heiligtum wurde ihnen schon seit Jahrzehnten verwehrt.
Vor dem Kaminfeuer sitzend fragte sich der Zar auch immer wieder, wie die Experimente nur so schiefgehen konnten. Vielleicht war es die DNA , die nach der langen Zeit im Eis zerstört wurde. Obwohl die Genetiker immer behaupteten, das Eis hätte die Knochen hervorragend konserviert. Die Gräfinnen hatten es auch längst aufgegeben, hinter das Problem zu kommen. Der Zar war froh darüber. Eine Art Harmonie herrschte seitdem zwischen ihnen. Der Zar ließ die Gräfinnen in Ruhe, sie ließen ihn in Ruhe. Bis zu diesem Freitagabend zumindest, an dem sie erfuhren, dass das Haus der Kormorane zerstört worden war.
Der Zar verbrachte den Abend auf der Terrasse und spielte per Skype Schach mit seinem größten Bewunderer. Der Sonnenuntergang verblasste am Horizont und badete die Terrasse in sanftem Licht. Die Kamera war so eingestellt, dass der Zar direkt auf Alexeis Schachbrett schauen konnte. Sie redeten nur das Nötigste, während aus den Boxen der Radiosender Echo Moskwy dudelte. Der Zar hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich über Alexeis Geschmack zu beschweren. Er fand,
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