Der letzte Engel (German Edition)
die Moderatoren sprachen undeutlich und zu viel. Alexei aber wollte es so, außerdem stand das Radio in der Küche seiner kleinen Einzimmerwohnung im Zentrum von Moskau, also hielt der Zar den Mund.
»Ich zieh mal den Läufer«, sagte Alexei.
»Dann zieh mal«, sagte der Zar und machte denselben Zug auf seinem Brett.
Eine der Bediensteten kam und stellte ein Glas Eistee neben das Notebook. Der Zar bedankte sich nicht. Er schaute auf die Eiswürfel, er schaute wieder auf den Monitor, und dann wurde jeder seiner trägen Gedankengänge durch ein Kreischen unterbrochen, das die zweiundzwanzig Papageien in der Voliere so sehr aufschreckte, dass ihr Lärm wie ein entgleisender Zug über das Wasser hallte.
Der Zar nahm den Eistee, goss den Inhalt auf den Rasen und warf das Glas nach den Papageien. Sie verstummten mit einem Schlag, als das Glas an den Gitterstäben zerbrach. Der Zar beugte sich über das Notebook und sprach direkt in die Kamera.
»Ich bin gleich zurück.«
Gräfin Natascha saß im Ballsaal auf einem der Sessel und erinnerte an eine zierliche Puppe, die von einem übermüdeten Künstler aus alter Haut und schwarzer Kleidung zusammengenäht worden war. Es ist eine Tatsache: Niemand altert gut. Irgendwann gibt es einen Punkt, an dem alles in sich zusammenfällt und zerbrechlich wird. Gräfin Natascha war schon lange über diesen Punkt hinaus.
»Was kreischst du so?«, fragte der Zar.
Natascha zeigte auf den Beistelltisch, auf dem das Telefon stand.
»Das war eben Jean-Luc«, sagte sie. »Das Haus der Komorane ist in Flammen aufgegangen.«
Der Zar erstarrte und spürte, wie sich ein paar Tropfen aus seiner Blase lösten.
»Setz dich lieber«, sagte die Gräfin und zeigte aufs Sofa. »Es kommt noch mehr.«
»Mich kann nichts erschüttern«, log der Zar.
»Setz dich!«, befahl die Gräfin, ohne ihre Stimme zu erheben.
Der Zar wartete einen Moment, um ihr nicht die volle Genugtuung zu geben, dann setzte er sich und hätte gerne die Beine übereinandergeschlagen. Das letzte Mal, als er das versucht hatte, war an einem Maitag 1975 gewesen, und das Hüftgelenk ist ihm dabei beinahe rausgesprungen. Seitdem überlegt sich der Zar jede einzelne seiner Bewegungen. Der linke Arm kam auf die Lehne und die Finger trommelten auf den Polsterstoff.
»Erzähl schon«, sagte er.
»Ich warte noch auf Pia.«
Als wäre das ihr Einsatz gewesen, hörten sie Schritte auf der Treppe, dann betrat Pia den Saal. Sie trug einen Sommerhut, hatte einen Zwergpudel an der Leine und einen leeren Einkaufskorb am Arm.
»Meine Liebe«, sagte Natascha, »setz dich zu uns.«
»Wieso seid ihr so ernst?«
»Das Haus der Kormorane ist nicht mehr«, sagte der Zar, weil er es nicht aushalten konnte, wie Natascha die Spannung hochtrieb.
Pia ließ den Korb fallen, der Zwergpudel japste und rannte davon. Pia schaffte es gerade mal so bis zum Sofa und sank neben dem Zaren nieder.
»Ganz ruhig, meine liebe Gräfin«, sagte der Zar und tätschelte ihre zitternde Hand.
»Sind sie … Sind sie alle tot?«, fragte Pia leise.
»Nicht alle«, sagte Natascha und erzählte von Jean-Lucs Anruf. So erfuhr die Familie von der Gouvernante und dem Mädchen, die nach dem Anschlag auf das Haus der Kormorane ins Archiv geflohen waren, wo ihnen die Bruderschaft auflauerte. Sie erfuhren auch vom Tod der Gouvernante und von dem Engel, der dem Mädchen das Leben gerettet hatte.
»Ein Engel?«
»Ein Engel ohne Flügel«, sagte Natascha. »Das Mädchen hat ihn aus ihrer Erinnerung mitgebracht.«
»Aus ihrer was ?!«, sagte der Zar.
»Aus ihrer Erinnerung«, wiederholte Natascha.
Pia begann zu stammeln.
»Wie … Ich meine, wie … Sie ist doch nur ein Mädchen, das …«
Sie verstummte, sie drückte sich eine Hand auf den Mund, sie hatte es begriffen.
»Theia«, flüsterte sie zwischen den Fingern hervor.
»Theia«, bestätigte Natascha und lächelte.
Der Zar stand auf der Leitung. Er wusste nichts von dem Märchen und der Königin, die sich den Gräfinnen vor knapp zweihundert Jahren gezeigt hatte. Er wusste eine Menge, aber davon hatte er keine Ahnung.
»Ich habe keine Ahnung, ob das eine Geheimsprache ist oder ob ihr vollkommen durchgedreht seid«, sagte er.
Die Gräfinnen standen auf und umarmten einander.
»Und was soll das? Wieso flennt ihr?«
»Wir wissen, wer das Mädchen ist«, antwortete Natascha und wischte Pia mit dem Handballen die Tränen von den Wangen. »Und wir flennen, weil wir am Ende einer langen Reise angekommen sind, mein
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