Der letzte Engel (German Edition)
später nachkommen.
Sie verschwanden an die dänische Küste und jeden Tag rang Natalia mit sich. Was wird aus Mottes Leben, wenn er die Wahrheit erfährt? Ist es klug, ihn vor der Familie zu verstecken? Kann ich ihn selbst in ein Krankenhaus einweisen, ohne dass sie es mitbekommen?
Nach vier Tagen spürte die Familie sie in dem Ferienhotel auf.
Das Telefon klingelte am Abend.
»Bleib ganz ruhig, meine Liebe«, sagte der Zar. »Ich stehe vor eurem Hotel. Ich kann dich durch das Fenster sehen. Geh ins Badezimmer, der Junge muss das nicht hören.«
Natalia nahm das Telefon und ging ins Badezimmer.
»Ich will nicht, dass du den Jungen aufregst«, sprach der Zar weiter. »Ich will, dass du ihm Gute Nacht sagst, und dann gehst du spazieren. Verstehst du mich?«
»Ich verstehe«, flüsterte Natalia.
»Die Familie ist sehr wütend auf dich, aber ich kläre das. Was du getan hast, war dumm. Wir werden dich wegschicken müssen. Du hast nicht nur den Jungen, sondern auch uns in Gefahr gebracht. Beantworte mir eine Frage ehrlich.«
Schweigen. Der Zar sprach weiter.
»Hast du es ihm erzählt?«
»Nein.«
»Meine Liebe, ich danke dir.«
Der Zar hatte aufgelegt. Natalia stand danach minutenlang im Badezimmer und hielt den Hörer wie eine Waffe in der Hand. Danach kehrte sie zu Motte zurück und sagte ihm, er dürfe den Comic zu Ende lesen, aber dann sei Bettzeit. Sie küsste ihn auf die Stirn und versprach, sie würde immer an ihn denken, selbst wenn er schlief, selbst wenn er alleine auf einem Berg stand, selbst wenn sie Planeten voneinander entfernt waren. Motte versprach, dasselbe zu tun. Es war das letzte Mal, dass sich die beiden sahen.
Der Zar war also auf seine Art Mottes guter alter Großvater und der gute alte Großvater reagierte genau richtig, als er hörte, dass Lazar auf dem Weg nach Berlin war, um den Jungen zu töten. Er stand auf und sagte:
»Ich muss mal telefonieren.«
Er stellte sich ans Fenster, holte sein Handy raus und machte den Anruf. Sein Deutsch klang zwar um einiges besser als vor hundert Jahren, aber der russische Akzent mit französischer Note sollte nie aus seiner Stimme verschwinden.
»Philipp, ich bin es.«
Der Zar sprach kurz und knapp mit dem Chef des privaten Sicherheitsdienstes, der seit Jahren für den Schutz der Familie verantwortlich war – Lazar hatte die Bruderschaft, die Familie den Sicherheitsdienst. Der Zar sagte, das Haus der Hakonsons hätte ab sofort höchste Priorität und sollte rund um die Uhr bewacht werden. Dann nahm er das Handy vom Ohr und drehte sich um.
»Lazar kann jetzt kommen«, stellte er fest und sah die anerkennenden Blicke der Damen und fragte sich mal wieder, warum er nie versucht hatte, Schauspieler zu werden.
Tatsache war, dass der Zar die ganze Zeit über in sein ausgeschaltetes Handy gesprochen hatte, weil er kein Idiot ist. Mottes Tod wäre sein frühzeitiges Ticket nach Russland, danach würde nichts mehr die Familie in Berlin halten. Dementsprechend hat der Zar den nächsten Tag gestaltet. Während die Gräfinnen ein Zimmer für das Mädchen herrichteten und alle paar Stunden versuchten, Mona über Jean-Lucs Handy zu erreichen, machte sich der Zar auf den Weg, um Motte zu beschützen.
Er verließ das Haus mit der aufgehenden Sonne und nahm ein Taxi, das ihn in die Innenstadt brachte. Nachdem er vier Zeitungen gekauft hatte, saß er am Savigny-Platz in einem Café, las die Zeitungen und genoss den Morgen. Bis zum Mittag meldete sich Pia zweimal bei ihm, beide Male beruhigte er sie und sagte, er würde seit den frühen Morgenstunden an der Seite des Sicherheitsdienstes verbringen und das Haus der Hakonsons keine Sekunde aus dem Auge lassen. Und nein, es hatte keine Aktivitäten in der Nacht gegeben, der Junge war nicht in Gefahr.
»Keine Spur von Lazar?«, fragte Pia überrascht.
»Nichts, meine Gute, gar nichts«, antwortete der Zar und winkte der Kellnerin, damit sie ihm noch einen Cappuccino brachte. »Wahrscheinlich hat unser guter alter Archivar etwas übertrieben. Woher sollte Lazar auch von dem Jungen wissen?«
»Woher wusste er vom Haus der Kormorane und vom Archiv?«
»Touché.«
»Ich mache mir Sorgen«, sagte Pia. »Vielleicht sind sogar wir in Gefahr.«
»Wir?«
Der Zar lachte. Er fand, wer sich nach so einem Leben noch fürchtet, der ist ein Idiot.
Er flanierte über den Kurfürstendamm, er ließ sich von einem türkischen Barbier rasieren, ging ins Kino und saß danach für eine Weile am Lietzensee auf einer Parkbank
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