Der letzte Engel (German Edition)
Dorftrottel hinterherschickst?«
»Kolja ist kein Dorftrottel«, mischte sich Pia ein. »Und Lazar wird nie aufhören, uns zu jagen. Wir hätten schon längst das Messer umdrehen sollen.«
Der Zar dachte über das Bild nach und verstand es nicht.
»Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte er. »Jetzt hält uns nichts mehr hier in Berlin. Wir können nach Petersburg zurückkehren und …«
Der Zar verstummte. Etwas juckte ihn in seinem Nacken. Er schaute über die Schulter. Kolja stand im Hintergrund und lächelte ihn an. Der Zar kniff die Augen ein wenig zusammen. Es sollte bedrohlich wirken, sah aber mehr danach aus, als würde der Zar ein Nickerchen machen.
»… stimmt nicht.«
»Was?«
»Irgendwas stimmt nicht«, wiederholte Natascha. »Wir können das Mädchen nicht erreichen.«
Der Zar suchte Jean-Lucs Nummer auf seinem Handy und wählte sie. Die Mailbox sprang nach dem zweiten Klingelzeichen an. Der Zar unterbrach die Verbindung und wählte die nächste Nummer.
»Wen rufst du jetzt an?«, fragte Natascha.
»Ich will den alten Sack fragen, was mit seinem Handy nicht stimmt«, antwortete der Zar. »Außerdem bin ich mir sicher, dass er jeden, der ihm auf der Straße begegnet, für einen Engel hält. Ich will von ihm persönlich hören, dass es ein Engel war, vorher glaube ich es nicht.«
Und dann rief er Jean-Luc über die Notrufnummer des Archivs an und im weit entfernten Edinburgh klingelte das schwarze Bakalittelefon zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden.
DER ARCHIVAR
M anchmal regnet es, manchmal schüttet es und manchmal ergießt sich die Welt über einen und bringt die ganze Kanalisation mit sich. Jean-Luc erwartete Letzteres. Er wusste, dass sie kommen würden. Er kannte die Bruderschaft zu gut. Er hatte ihre Überfälle studiert. Sie waren ohne Gnade und sie ließen einen Tod nie ungesühnt.
Und dann kamen sie nicht.
Die ganze Nacht saß der Archivar auf dem Sofa, das Gewehr seines Vaters quer auf dem Schoß und nichts geschah. Als er im Morgengrauen aus dem Schlaf schreckte, war sein Nacken steif und er lebte noch. Es machte keinen Sinn. Jean-Luc hatte mit seiner Existenz abgeschlossen und diese verdammte Bruderschaft ließ ihn hängen.
Er duschte, rasierte sich und trank seinen Kaffee im Stehen, während er aus dem Fenster schaute. Die Culmer Street war unverändert. Ein Postauto fuhr die Straße hoch, eine Frau kam um die Ecke und schob einen Kinderwagen.
Keine Polizeiabsperrung war vor der Nummer 45 aufgebaut worden.
Jean-Luc hätte gerne den Tunnel genommen und sich die Wohnung angesehen. Er war sich sicher, dass sie vollkommen sauber war. Keine Spuren, keine Toten, nichts.
Der Archivar atmete durch, wandte sich vom Fenster ab und begann aufzuräumen.
Die Bücher hob er sich zum Schluss auf. Erst wollte er sie aus den Regalen nehmen und runter in den Keller tragen. Seinen Berechnungen nach hätte er dafür mindestens hundertmal runterlaufen müssen. Er überlegte es sich anders und nahm hier mal eines, da mal eines aus dem Regal, schlug es auf und betrachtete die Schrift, ohne sie zu lesen. Danach schloss er das Archiv ab und spülte den Schlüssel im Klo herunter.
Um den Mittag herum verschickte er Mails und verabschiedete sich. Er kündigte das Telefon, das Internet und den Strom für den nächsten Monat. Für eine Weile saß er auf dem Sofa und genoss die Nachmittagssonne. Der Archivar dachte an seine Eltern, und er dachte an sich selbst, wie er einst gewesen war. Es war ein gutes Leben, sagte er sich, und der Gedanke war ohne Bitterkeit. Sie waren eine zufriedene Familie gewesen. Sie hatten Musik und Bücher, die sie teilten, sie hatten immer was zu reden. Es war eine Welt in der Welt. Und es war eine gute Welt.
Der Archivar war bis zum Abend mit der Wohnung beschäftigt. Er putzte, wusch Wäsche und selbst die Fenster nahm er sich vor. Um zehn war er mit seiner Arbeit fertig und kochte sich einen Tee. Er passte auf, dass er nicht über die Kabel auf dem Boden stolperte. Die Dämmerung war hereingebrochen, aber er brauchte kein Licht. Der Sessel war in die Mitte des Wohnzimmers geschoben, rechts von ihm befand sich ein Beistelltisch, auf dem Kekse und ein Radio standen. Die Musik war leise gedreht. Jean-Luc saß in der Dunkelheit, genoss den Tee und wartete.
Kurz vor elf hörte er sie im Hausflur.
Schritte. Stimmen. Das Murmeln der Nachbarn. Noch mehr Schritte.
Das Radio gab ein mildes Licht von sich, wie dieser Fisch in den Tiefen des Meeres, der seine
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