Der letzte Engel (German Edition)
Beute anlockt, indem er ihr den Weg zu seinem Maul leuchtet. Es war das einzige Licht in der Wohnung. Die Musik passte dazu, sie war ein Flüstern. Is this as good as it gets?, sang eine Stimme, und ein Saxophon begleitete sie, und ein Schlagzeug stolperte in einer verstörten Eleganz um die Melodie herum, sodass Jean-Luc es bereute, nicht mehr Musik in seinem Leben gehört zu haben.
Es gab so viel zu entdecken, dachte er, als seine Wohnungstür leise aufschwang.
Der Archivar schaute den dunklen Flur hinunter, er spürte den Windzug und dann sah er die Schatten, die lautlos in seine Wohnung strömten. Er stellte sich vor, wie sie den Tunnel im Keller entdeckt hatten, er stellte sich vor, wie sie dem Tunnel gefolgt und vollkommen verwirrt am anderen Ende der Straße in einem anderen Keller herausgekommen waren. Es gab keine Zweifel, dass sie bei ihm richtig waren. Sie hatten in der letzten halben Stunde alle anderen Wohnung abgeklappert. Seine Tür war die letzte im obersten Stockwerk. Er hatte sie bewusst nicht abgeschlossen.
Die Söldner sprachen nicht miteinander. Sie waren zu viert. Sie hatten die Waffen im Anschlag, und als sie ihn sahen, blieben sie stehen.
»Arme hoch!«
Der Archivar dachte nicht daran. Er saß reglos da, die Arme auf den Lehnen des Sessels und kein Funken Angst in seiner Brust. Er hatte sich vorgestellt, wie er um sein Leben bettelt und mit erhobenen Armen erschossen wird. Er hätte nie gedacht, dass er so ruhig bleiben würde.
Ein Funkgerät knisterte, eine Stimme antwortete flüsternd:
»Wir haben ihn! Ich wiederhole, wir haben ihn!«
Einmal hätte auch gereicht, dachte Jean-Luc.
»Verdammt, nimm die Arme hoch!«
Sie schwärmten um ihn herum aus, einer stolperte und fluchte, ein anderer sagte:
»Passt auf, da liegen Kabel!«
Es war zu dunkel, sie sahen kaum, wohin sie traten. Einer stieß gegen die Stehlampe und fing sie auf, bevor sie auf den Boden knallte.
»Wieso macht ihr kein Licht?«, fragte Jean-Luc.
Die Söldner erstarrten, als hätte Gott zu ihnen gesprochen. Der Archivar gab sich Mühe, aber er konnte sie nicht einmal atmen hören. Der Anführer zischte einen Befehl und einer der Söldner tastete sich an der Wand entlang und legte den Lichtschalter um. Und wie es das Schicksal wollte, klingelte natürlich im selben Moment das Wandtelefon, und wie es das Schicksal wollte, flackerte das Deckenlicht für Sekunden auf und zeigte den Söldnern die Kabel, die Kanister und die Sprengsätze, die der Archivar in seinem Wohnzimmer verteilt hatte.
Es ist immer gut, auf alles vorbereitet zu sein, war dann auch der letzte Gedanke, den Jean-Luc hatte, bevor sich das Archiv in grelles Nichts auflöste.
DER ZAR
D er Zar klappte sein Handy wieder zu. Nach dem ersten Klingelton war die Verbindung unterbrochen worden. Er fühlte sich ein wenig frustriert und wusste nicht, wie er den Frust mit der Freude über Mottes Tod verbinden sollte. Er wollte sich eben wieder den Gräfinnen zuwenden und ihnen sagen, dass Jean-Luc anscheinend Besseres zu tun hatte, als ans Telefon zu gehen, da erklang das Schlittern von Autoreifen von der Auffahrt. Kurz darauf hallte es durch die Villa:
» WO SEID IHR ?!«
Keiner rührte sich. Schritte kamen näher, dann stürmte Erik Hakonson auf die Terrasse. Der Zar hatte in dem Moment alles erwartet – Wut, Geschrei und Beschimpfungen. Er hatte nicht mit einem Erik gerechnet, der vollkommen aufgelöst vor ihnen zum Stehen kam. Sein Kinn zitterte, und es hätte den Zaren nicht gewundert, wenn der Mann in Tränen ausgebrochen wäre.
»Mein lieber Erik«, sagte Pia und stand auf. »Es tut uns leid, dass –«
»Ich habe ihn gesehen«, unterbrach sie Erik. »Er … Er war vor meinem Haus. Ich habe ihn gesehen. Ich …«
Er schnappte nach Luft, die Gräfin nahm ihn an den Schultern und lenkte ihn auf das Sofa. Natascha reichte ihm ein Glas Wein. Erik trank und atmete durch.
»Ich habe ihn gesehen«, wiederholte er. »Er hatte zwar keine Flügel, aber ich bin mir sicher, dass er ein Engel war.«
Erik erzählte, wie er nach dem Brand seines Hauses auf dem Bürgersteig gestanden hatte. Von den Gaffern, von der Trauer und wie sie dann Mottes Leiche aus dem Haus trugen.
»Ich fühlte mich beobachtet, und wie ich mich umdrehte, stand er da, und mich überlief ein eiskalter Schauer, und ich dachte: Das ist ein Engel, das ist ein verdammter Engel. Ich habe es gespürt, versteht ihr? Er hat mich angesehen, als würden wir irgendwie zusammengehören. Als wüsste
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