Der letzte Engel (German Edition)
willst dir das nicht vorstellen?
Dann mach mal die Augen auf.
Die toten Mädchen warten geduldig. Sie stehen in einer Reihe, Schulter an Schulter, sie wirken wie die reine Unschuld in ihren Schlafanzügen. Blau, rot, grün. Sie sehen dich an und lächeln. Rechts von dir sitzt Cedric vorgebeugt auf einem viel zu kleinen Plastikstuhl und starrt auf den Boden. Du kannst sehen, dass ihm die Haare langsam ausgehen. Seine Lippen bewegen sich, als würde er mit sich selbst reden. Er hat nicht mitbekommen, dass du aufgewacht bist.
Was tust du hier überhaupt?
Deine Erinnerung ist vage. Du weißt noch, dass du das Café verlassen hast. Und da war ein Hund. Und da war eine Frau, die dir helfen wollte. Orangen und Äpfel und Zitronen. Und dann natürlich die toten Mädchen. Du schaust zu ihnen rüber. Ihre Augen sind bodenlos schwarz, das Lächeln spannt ihre Münder, du glaubst sie atmen zu hören und fragst dich, wieso du in einem verdammten Krankenhaus liegst.
»Was tue ich hier?«
Cedric schreckt hoch, er sieht dich an, er spricht, aber du hörst ihn nicht, seine Stimme ist ein Hintergrundrauschen. Was du dagegen noch immer deutlich hörst, ist das Atmen der Mädchen. Wie können sie atmen, wenn sie tot sind?, fragst du dich und begreifst, dass es kein Atmen ist.
Sie flüstern, sie flüstern meinen Namen.
»Lazar?«
Du zuckst zusammen, Cedric hat dich am Arm berührt.
»Was …«
Du schluckst, dein Mund ist trocken, das Flüstern ist verstummt.
»Was ist passiert?«
»So eine bekloppte Kuh hat dich angefahren. Wir haben einen Parkplatz gesucht, und als wir zum Café zurückgekommen sind, war es zu spät. Da lagst du schon auf der Straße.«
Du schaust an dir herab. Du siehst keinen Verband, keinen Gips. Du hast keine Schmerzen.
»Ist das ein Witz? Cedric, was habe ich hier verloren?«
»Wir haben dich nicht wachbekommen, also habe ich einen Krankenwagen gerufen.«
Du schlägst die Bettdecke zur Seite. Du trägst ein orangenes Krankenhaushemd mit weißen Punkten darauf, deine Beine schauen hervor und sind blass und grau, als wärst du vor langer Zeit gestorben. Deine Zehen sind hässlich. Die Adern auf den Waden stehen hervor wie erkaltetes Blei.
»Hol meine Sachen.«
»Aber der Arzt …«
»Hol meine verdammten Sachen, Cedric!«
Er geht zu einem Schrank. Du schwingst die Beine aus dem Bett, dir ist schwindelig, und als du versuchst aufzustehen, zieht der Schmerz bis runter in deine Füße. Du verschiebst das Hemd – ein dunkelblauer Fleck bedeckt deine Hüfte bis zu den Rippen. Es ist dir ein Rätsel, dass dir nicht mehr passiert ist.
Cedric bringt deine Sachen und will dir beim Anziehen helfen, du sagst ihm, er soll draußen warten. Er lässt dich allein. Dich und die toten Mädchen.
Du schaust über deine Schulter.
Sie sind noch immer da.
Natürlich sind sie noch immer da, denkst du gereizt.
Sprich mit ihnen, sag ihnen, wie die Dinge stehen.
»Dass das mal klar ist«, sagst du laut. »Ihr macht mir keine Angst, euch gibt es nicht und deswegen macht ihr mir keine Angst!«
Was für eine traurige Lüge. Du bringst sie zwar überzeugend hervor, doch das versteckte Zittern in deiner Stimme ist unüberhörbar. Dabei warst du es, der das Schicksal herausgefordert hat. Du allein wolltest, dass dir Mona zeigt, wie sie es bis nach Berlin geschafft hat. Du bist freiwillig in die Falle getreten. Mona hat deine Hand für nur fünf Sekunden gehalten, mehr hat es nicht gebraucht.
In den ersten vier Sekunden hast du alles erfahren. Nicht nur zeigte sie dir, was nach ihrer Ankunft in Edinburgh passiert ist. Sie zeigte dir auch, dass sie Erinnerung berühren kann und wie sie den Engel in die Gegenwart geholt hat. Sie ist kein einfaches Mädchen, sie ist Teil einer uralten Geschichte. Und sie hat nichts vor dir verborgen. Du hast sehr schnell begriffen, dass sie eine der Blutsschwestern ist. So wie du begriffen hast, dass Esko der letzte Engel sein muss, wegen dem die erste Menschheit vernichtet wurde. Es war reinste Ironie. Einst waren sie Erzfeinde, jetzt liefen sie Seite an Seite durch die Gegend und hatten keine Ahnung von der Gefahr, die sie über die Welt brachten.
Die Vergangenheit ist in der Gegenwart angekommen.
Aber diese Erkenntnis war nicht das Ende deiner Reise durch Monas Erinnerung.
Vor dem Archiv bist du dann das erste Mal auf ihre toten Schwestern getroffen. Sie standen auf dem Bürgersteig und lächelten und sahen Mona an und damit auch dich. Auf diese Weise wurde die erste Verbindung
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