Der letzte Engel (German Edition)
aufgebaut. Denn nichts und niemand kann die Toten mit den Lebenden zusammenführen. Außer in der Erinnerung. In der Erinnerung ist alles möglich. Und genau deswegen hatte dich Mona mitgenommen.
Aber auch dort endete die Reise nicht.
Nein .
Sie verpassten die Fähre, verbrachten die Nacht am Strand und schickten den Raben los und du warst dabei. Du hast zugehört, als Esko bis zum Morgengrauen von der Familie erzählte, um Mona wachzuhalten. Du hast den Hintergrund besser verstanden, es hat aber deinen Hass nicht gemindert. Es hat dich eher erschreckt, wie ahnungslos sie alle waren. Und dann kam die Enttäuschung, als die ersten beiden Fähren ausfielen, sodass Mona und Esko erst zum Mittag nach Rotterdam übersetzen konnten. Esko fuhr ohne Pause weiter nach Berlin und hielt nur einmal, um Dessers Uniform loszuwerden und um sich und Mona andere Kleidung zu kaufen. Auch ohne diesen Zwischenhalt hätten sie es nicht geschafft, das Haus der Hakonsons rechtzeitig zu erreichen.
Monas Erinnerung endete nicht vor dem brennenden Haus, sie endet in dem kleinen Café, und das ist der Ort, an dem deine ganz private Reise in die Hölle begann. Denn genau dort ließ Mona die Mädchen zu sich kommen. Sie nahm jede einzeln bei der Hand, und indem sie das tat, nahmst auch du sie bei der Hand, und damit war die Verbindung geschlossen.
Und das geschah in der fünften Sekunde:
Mona gab ihren Schwestern, wonach sie die ganze Zeit verlangt hatten.
Sie lieferte dich aus.
Der Kontakt hat dir beinahe das Herz zerrissen. Und das ist nicht bildlich gemeint. Eine Welle aus Wut umschloss dich. Dein gesamter Körper verkrampfte sich und die Nerven waren überfordert. Es ist ein Wunder, dass du nicht in diesem Café gestorben bist. Die toten Mädchen waren ohne Gnade, ihr Hass ließ nicht nach, eine Welle nach der anderen traf dich. Aber du hast es überlebt, denn du bist zäh, verdammt, du hast es überlebt. Erst hast du sie gejagt, jetzt bist du ihr Opfer und gehörst ihnen allein. Und das wird anhalten, bis du nicht mehr existierst. Die toten Mädchen haben es dir verraten.
Stirb und wir sind frei, haben sie gesagt.
Du denkst nicht daran. Du bist zäh und du willst nicht sterben. Wenn es sein muss, wirst du dich durch all das Leid der Welt schleppen, nur um diesen toten Gören zu beweisen, dass man sich nicht mit einem Mann wie dir anlegt. Du hast den Segen überlebt, du wirst auch diese Mädchen überleben. Und deswegen stehst du vom Bett auf und siehst sie an und denkst: Ihr könnt mir nichts . Die Mädchen schnurren dazu. Sie lesen deine Gedanken und amüsieren sich und können dir mehr, als du jemals erahnen kannst.
»Alles okay?«
Cedric hat die Tür geöffnet und schaut rein. Er zeigt auf sein linkes Auge. Du stellst dich vor den Spiegel über dem Waschbecken. Dein Gesicht ist aschfahl, das Weiß in deinem linken Auge hat sich schwarz verfärbt. Alles wird wahr, denkst du und erinnerst dich an die Prophezeiung und siehst zu den toten Mädchen – jede von ihnen hat eine Hand gehoben und zeigt auf ihr linkes Auge. Schwarz. Sie lächeln. Du wendest den Blick ab und schaust wieder in den Spiegel. Eines seiner Augen wird der Tag, das andere die Nacht sein. Du bist nicht blind, du siehst noch immer, aber es fühlt sich an, als würde dir dein Auge nicht mehr wirklich gehören. Alles wird wahr, denkst du und bedauerst es sehr, dass dir der Mut fehlt, das schwarze Auge auszureißen. Aber wen willst du hier täuschen? So einfach lässt sich die Prophezeiung nicht aufhalten.
»Lass uns verschwinden«, sagst du zu Cedric.
Die Mädchen jubeln, es klingt wie heiseres Schreien. Du wünschst dir, Cedric könnte sie sehen, es würde die Qual erleichtern.
Ihr verlasst das Krankenhaus, Cedric führt dich zum Wagen, die toten Mädchen hüpfen um dich herum. Du spürst sie in deinem Rücken, du spürst ihre Hände, die deine Arme rauf- und runterkratzen. Deine Haare sind elektrisiert, und da ist ein metallischer Geschmack in deinem Mund, der dich ausspucken lässt, als wärst du ein bitterer alter Mann, der das Leben hasst.
»Wo steckt Paulsen?«, fragst du.
Cedric holt sein Handy heraus und stellt die Verbindung her. Er erklärt dir, dass das Mädchen, der Junge und der Mann die Straße runtergelaufen sind, als Paulsen und er um die Ecke kamen. Cedric hat ihnen Paulsen hinterhergeschickt.
»Einer musste ja bei dir bleiben«, sagt er.
Du drückst dir das Handy ans Ohr und hörst das Klingelzeichen. Ihr steht in der Sonne. Du willst
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