Der letzte Engel (German Edition)
nicht in den Wagen. Es fühlt sich besser an, in der Sonne zu sein. Was natürlich eine Ausrede ist. Die toten Mädchen drängen sich im Wageninneren. Sie pressen ihre Gesichter ans Glas und sehen dich an. Du wendest den Blick ab.
Paulsen meldet sich nach dem zweiten Klingelton.
»Wo bist du?«
»He, alles klar, Boss?«
»Wo bist du?«
»Am Wannsee. Ich habe euch eine SMS mit den Koordinaten geschickt. Die drei sitzen unten am Wasser vor einem Lagerfeuer. Ich habe sie im Visier. Wenn ich –«
»Nicht.«
»Was?«
»Ich brauche das Mädchen.«
»Oh. Ich dachte, ich könnte –«
»Ich sagte, ich brauche das Mädchen.«
»Und die anderen beiden?«
Du zögerst, du zögerst ein wenig länger und denkst an die Prophezeiung und sagst:
»Ich brauche nur das Mädchen.«
»Gut.«
»Wir sind in einer halben Stunde bei dir. Und Paulsen?«
»Ja, Boss?«
»Vermassel es nicht.«
DER VATER
E r fährt nicht sofort los. Er sitzt im Auto und beobachtet, wie sich das Ruderboot träge vom Ufer wegbewegt. Plötzlich richtet sich der Zar auf. Eines der Ruder landet im Wasser und treibt davon.
Es wäre witzig, wenn Motte und Natalia nicht tot wären, denkt Erik und startet den Wagen.
Er wendet und gibt Gas, er rast in die Kurven und weiß nicht, warum er sich so beeilt. Als könnte er die Zeit einholen.
Mach heute zu gestern zu vorgestern, denkt er, mach irgendwas.
Erik hat der Polizei erzählt, dass es schon eine Weile Probleme mit dem Gasboiler gegeben hätte. Er wusste, dass die Familie jede Untersuchung unterbinden würde. Danach hat er mit dem Bestattungsunternehmen gesprochen. Es hatte schnell zu gehen, es durfte keine Obduktion geben. Auch hier kam die Familie ins Spiel. Erik musste die Gräfinnen nur erwähnen, da verneigte sich der Bestatter auch schon und sagte: »Montag ist überhaupt kein Problem, ich kontaktiere den Friedhofsleiter. Sagen wir um zehn Uhr, mein Herr?« Seitdem Erik in Deutschland lebt, hat ihn noch niemand mein Herr genannt. Es klang aus dem Mund des Bestatters beinahe schon obszön.
Erik fühlte sich wie betäubt. Es ging alles so schnell. Kein Motte, keine Natalia, kein Haus und übermorgen die Beerdigung des Jungen. Nachdem Erik beim Bestatter gewesen war, hatte er sich ein Hotelzimmer genommen und so lange heiß geduscht, bis er vor Müdigkeit nicht mehr stehen konnte. Nackt fiel er aufs Bett und schaffte es nicht einmal, sich zuzudecken. Für eine Stunde versank er in einem Tiefschlaf und träumte vom dem Engel, den er auf der Straße gesehen hatte. Nur dass der Engel jetzt Flügel besaß und ihn fragte, ob es das wäre, was er gewollt hätte. Erik wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Also wiederholte der Engel die Frage, wieder und wieder, bis Erik schweißgebadet erwachte.
Das Hotelzimmer war dunkel, von draußen war das Jammern einer Katze zu hören. Erik hatte sich noch nie so verloren gefühlt. Er duschte erneut und fuhr direkt zur Familie, um ihr von dem Engel zu erzählen.
Und jetzt rast er am Krampnitzsee vorbei, lässt Neu Fahrland hinter sich und hofft auf eine Polizeikontrolle, auf irgendjemanden, der ihn aufhält. Innerhalb von Minuten ist er am Stadtrand von Potsdam angekommen und da passiert es.
Endlich .
Die Ampel stoppt ihn.
Erik bremst hart, der Wagen bleibt stehen, das Ampellicht glüht rot, kein Mensch ist zu sehen. Erik wartet. Und wartet. Ein Fahrrad kommt von links angewackelt, ein dicker Mann hat einen kleinen Hund an der Leine, der so schnell neben dem Fahrrad hertrippelt, dass es aussieht, als hätte er zehn Beine. Das Rad rollt vorbei, die Ampel bleibt rot und Eriks Herz wird mit jeder Sekunde schwerer. Seitdem er weiß, dass der Engel am anderen Ufer steht, möchte er einfach nur verschwinden. Er will ihn nicht wiedersehen, er will ihn nicht sprechen. Als Erik den Engel vor dem Haus stehen sah, hatte er nur einen Gedanken: Das könnte Motte sein. Eines Tages hätte das Motte sein können. Ohne Flügel zwar, dafür aber am Leben.
Die Familie ahnt nicht, wie sehr er den Jungen vermisst. Erik weiß, was der Zar dazu sagen würde. Er war nicht einmal dein Fleisch und Blut. Auf eine Weise war er es doch. Erik kann es nicht anders erklären. Er hat den Jungen kilometerweit auf dem Rücken durch einen Schneesturm getragen. Er hat ihm das Leben gerettet.
Auf irgendeine Weise haben wir zusammengehört, denktErik, als drei Männer um die Ecke kommen und vor seinem Auto über die Straße laufen. Einer klopft auf die Motorhaube. Erik glaubt, ihn
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