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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Drvenkar
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in leblosen Dingen wie Knochen zu finden war. Und nie verlor er ein Wort über die Gräfinnen, die ihn zu diesem Gedankengang geführt hatten. Es war alles so, wie es sich die Damen gewünscht hatten. Jeder verfolgte seine eigenen Ziele. Niemand hatte zu wissen, wie die ihren aussahen.
    Und so begannen die Experimente im Kellergewölbe der Villa.
    In Sankt Petersburg brach eine neue Ära der Forschung an, während der Besuch der Gräfinnen in Marburg vollkommen in Vergessenheit geriet. Die Damen gingen davon aus, dass sie für die Brüder Grimm nur noch eine nette Erinnerung waren und nicht mehr. Sie kamen keine Sekunde darauf, dass jemand wie Jacob Grimm alle Seiten des Märchens memorieren konnte und so weit ging, Kyrillisch zu lernen, um sich der Herausforderung der Gräfinnen zu stellen. Erst Jahrzehnte später sollten unsere zwei Damen die Auswirkungen ihres Treffens mit den Brüdern zu spüren bekommen. Unwillentlich hatten sie mit ihren vierundzwanzig Seiten einen mächtigen Widersacher ins Leben gerufen.
    Jemanden, der die Dunkelheit in dem Märchen sah.
    Jemanden, der sich gegen den Strom der Zeit stellte.
    Jemanden wie die Brüder Grimm.

DIE BRUDERSCHAFT
    D ie Brüder Grimm vergaßen das Märchen und sie vergaßen die Gräfinnen. Zwanzig Jahre lang. Und das ist natürlich eine Lüge. Die Brüder hätten sich gewünscht, das Märchen vergessen zu können. Sie dachten jeden Tag an den Auftritt der Gräfinnen in der Gaststätte. Das Märchen hatte sie berührt, und es gab Nächte, in denen Jacob schweißgebadet aus einem Traum erwachte, in dem eine Frauenhand ihm eine Handvoll Federn reichte. Auch Wilhelm plagten Albträume – mal war er umschlossen von Flügeln, und mal spürte er, dass etwas auf seinem Rücken wuchs. Die Brüder sprachen nie darüber, sie bewahrten ihre Gedanken und Träume auf, wie man dunkle Geheimnisse aufbewahrt, und versanken tiefer in ihrer Arbeit.
    Im Sommer 1836 hörten die Brüder von einem grausigen Fund, der an das Ufer der Oder gespült worden war. Die Leiche des Mannes hatte Auswüchse auf dem Rücken und geschwollene Gelenke. Mehr war dem Zeitungsartikel nicht zu entnehmen. Drei Monate später wurde eine junge Russin mit hohem Fieber in das Leipziger Krankenhaus eingewiesen. Sie war vor Schmerzen schreiend durch die Straßen getaumelt. Die Ärzte entdeckten auf ihrem Rücken Auswüchse, sie hatte innere Blutungen und all ihre Rippen waren gebrochen, ohne dass sich äußere Verletzungen feststellen ließen. Erst als die Brüder von dieser Groteske hörten, wurden sie aufmerksam und reisten nach Leipzig. Die junge Frau war in der Zwischenzeit verstorben, aber die Brüder bekamen Zugang zu ihrer Leiche und besahen sich die Auswüchse auf ihrem Rücken.
    Knochen und Knorpel bildeten ein Gewächs, das entfernt an magere Arme erinnerte.
    »Denkst du dasselbe wie ich?«, fragte Jacob, als sie das Krankenhaus wieder verließen.
    »Als hätte sie versucht, sich Flügel wachsen zu lassen«, sagte Wilhelm. »Aber wie ist das möglich?«
    »Wie auch immer es möglich ist«, erwiderte Jacob, »jemand hat den Schlüssel gefunden und setzt ihn ein. Diese Frau hier und der Tote, der ans Ufer der Oder gespült wurde, sind misslungene Versuche, Wilhelm. Es hat begonnen.«
    Für einen Moment schloss er die Augen, dann zitierte er aus dem Märchen:
    » So wie der letzte Atemzug eines Engels drei Tage lang alles Lebendige verlöschen lässt, entzündet der erste Atemzug die Flamme und lässt das Vergangene drei Tage lang blühen. Und siehe, in dieser Zeit wird das Volk zurückkehren. Und siehe, eine neue Zeit wird anbrechen, denn jeder Anfang ist ein Ende und jedes Ende ein Anfang in diesen Zeiten ohne Engel.«
    Kaum hatte Jacob diese Worte ausgesprochen, überfiel Wilhelm eine Eiseskälte, und seine Glieder wurden schwach. Er ließ sich auf einem Treppenabsatz nieder.
    »Du weißt, was das heißt«, sagte Jacob.
    »Sie sind dabei, das Volk zu erwecken.«
    »Und die Blutsschwestern«, sagte Jacob.
    »Und die Blutsschwestern«, stimmte ihm Wilhelm zu. »Was tun wir nur?«
    »Auf jeden Fall nicht tatenlos herumsitzen«, sagte Jacob und ging die Straße hinunter, um im Zeitungsarchiv nach mehr Informationen über die verstorbene Russin zu suchen. Wilhelm schaute ihm müde hinterher. Er fürchtete sich. Taten waren gefragt, und wenn er ganz ehrlich war, hatte er keine Kraft mehr für Taten. Er war verheiratet, er hatte einen kleinen Sohn.
    Fünfzig ist zu alt, dachte Wilhelm und stand auf und folgte

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