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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Drvenkar
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seinem Bruder.
    Die Nachforschungen waren wie das Schälen einer Zwiebel. Die Brüder folgten den Gerüchten und taten eigentlich dieselbe Arbeit, die sie auch während der Zusammenstellung der Sagen und Märchen getan hatten – sie hörten zu, sie zogen Verbindungen und eliminierten den Unsinn. Sie wussten, dass die Gräfinnen und die tote Frau von russischer Herkunft waren, also fokussierten sie ihre Suche auf dieses Land.
    Die Fakten waren dabei mehr als verwirrend.
    Vier Wissenschaftler aus dem Kreis Hannover und zwei aus dem Kreis Heidelberg hatten ihr Heim verlassen und waren ohne Erklärung nach Sankt Petersburg gezogen. Niederländische und französische Universitäten berichteten von einer ähnlichen Emigration ihrer Professoren. Es ging auch das Gerücht um, dass in Russland die Erforschung der Zukunft stattfinden würde.
    Zwei Namen fielen immer: Barthom Van Leuweenhoek und Yves Romain.
    Wilhelm schrieb darauf einem Studiumkollegen, der in Sankt Petersburg lehrte, und bat ihn um mehr Informationen über die sogenannte Erforschung der Zukunft .Der Kollege hatte nie etwas davon gehört. Erst als ihm Wilhelm die Frauenleiche beschrieb, die sie im Keller des Leipziger Krankenhauses vorgefunden hatten, bekam er zu hören, dass im Umkreis von Sankt Petersburg in den letzten Jahren immer wieder Tote mit ähnlichen Deformationen aufgefunden worden waren.
    »Das ist kein Zufall mehr«, sagte Jacob am selben Abend zu Wilhelm. »Wir können uns nicht abwenden und tun, als würde es uns nicht betreffen.«
    »Es betrifft uns nicht wirklich.«
    »Noch nicht, Wilhelm, noch nicht!«
    »Was soll denn das heißen?«
    »Ich denke, wir müssen nach Sankt Petersburg reisen. Ich denke, wir müssen herausfinden, was da passiert. Vielleicht können wir es aufhalten.«
    Wilhelm senkte den Blick.
    »Was ist?«, fragte Jacob.
    »Sieh uns doch an«, antwortete Wilhelm. »Wir sind zu alt dafür.«
    »Ich fühle mich nicht alt!«
    Wilhelm blickte auf.
    »Du vielleicht nicht«, sagte er.
    In diesem Moment wurde Jacob zum ersten Mal bewusst, dass sie keine jungen Männer mehr waren. Sie lebten in Kopfwelten, sie hatten die deutsche Sprache mitgeprägt und ihre ganze Kraft in diese Arbeit gesteckt. Sie waren nicht reich, sie waren nicht einsam, sie waren aber alt. Während die Grimms über ihrer Arbeit brüteten, hatte sich die Jugend hinter ihrem Rücken davongeschlichen und war verschwunden.
    »Wozu rätst du dann?«, fragte Jacob.
    »Überlass es den jungen Leuten. Sprich mit unseren Studenten. Sprich mit Fech, Honder und Thorwald. Alle drei sind Abenteurer, die keine Unannehmlichkeiten scheuen. Sie wären genau die Richtigen für eine Expedition. Weihe sie in unsere Sorgen ein und lass uns hören, was sie zu sagen haben. Das ist mein Rat, Bruder, denn wir haben schon vor langer Zeit die jugendliche Kraft verloren.«
    In der Woche darauf luden sie die drei Studenten zu sich ein. Jacob berichtete ihnen von dem Treffen mit den Gräfinnen vor zwanzig Jahren und rezitierte das gesamte Märchen vom letzten Engel aus dem Gedächtnis. Als er geendet hatte, fürchtete er Gelächter. Nichts war schlimmer als der Hohn der Jugend. Die Studenten wechselten einen Blick untereinander. Ihre vollen Namen waren Georg Honder, Max Jonas Fech und Waldemar Thorwald. Georg übernahm das Wort und sagte:
    »Ich muss zugeben und denke, dass ich im Namen von allen spreche, wir sind verwirrt, aber wir sind bereit, alles zu tun, um den Herren Grimm behilflich zu sein.«
    Die drei Studenten reisten in derselben Woche nach Sankt Petersburg.
    Nur einer kam zurück.

MOTTE
    A uch wenn viele sagen werden: Motte, halt mal die Klappe, halte ich jetzt nicht die Klappe und unterbreche die Geschichte und erzähle von einer ganz anderen Reise.
    Was sein muss, muss sein.
    Außerdem will ich nicht, dass ihr denkt, Lars wäre eine Pfeife.
    Zwei Jahre nachdem meine Mutter verschwunden war, hatte sich die Normalität wieder eingeschlichen, und mein Vater und ich lebten unser Leben, als hätte es meine Mutter nie gegeben. In einer Woche sollte ich zwölf werden und eine Party war geplant. Dafür stieg ich auf den Dachboden und versuchte, an einen Karton zu kommen, in dem ich Spiele vermutete, denn zu jeder Party gehörte ab Mitternacht eine Runde Risiko , bis es nur noch einen Gewinner gab und alle anderen japsend auf dem Teppich lagen. Der Karton rutschte vom Regal und eine Flut von Fotos ergoss sich über den Boden. Die nächste Stunde saß ich da und hatte das Gefühl, jemand

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