Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
Familie?«, fragte sie stockend und hockte sich neben ihn. Die Bank ächzte, als er ein Stück zur Seite rückte, um ihr Platz zu machen.
Ari zuckte mit den Schultern. »Tot. Alle tot.« Lies nickte verstehend. Stumm schlürften sie den Kaffee.
»Tot im Krieg?«, fragte sie. ›Krieg‹ war das neuste Wort, das sie gelernt hatte. Ari schüttelte den Kopf. »Ein Unfall. Pferd -«, eine Handbewegung wie ein herabfallender Gegenstand, »in den Fluss. Alle. Es war schlechtes Wetter. Schneesturm. Alle blieben tot. Anna Bryndís, der kleine Ísak, Palli.«
»Wer ist Palli?«
Der Kaufmann sah sie ernst an und holte die Tabakdose aus der Tasche. »Palli war Elías’ Bruder.« Ein wenig zu eilig stopfte er sich den Tabak hinter die Oberlippe und stand auf.
»Man soll die Toten ruhen lassen«, sagte er so langsam und deutlich, dass Lies jedes einzelne Wort verstand. Sie nickte verstehend. Ein Familiendrama. Ihr fiel etwas ein, und sie bedeutete ihm, einen Moment noch zu warten. Rannte in ihr Zimmer und holte Hjörvar aus dem Schrank.
»Palli?«, fragte sie und hielt ihm das Foto hin. Der Kaufmann kratzte sein eisgraues Haar, seine Lippe spielte mit dem Tabak. Er nahm das Foto, betrachtete es lange, dann nickte er. »Palli. Jæja . Das war Palli.«
Gunnarsstaðir hatte einen Bewohner dazugewonnen.
Lies hockte am Küchentisch und starrte in die Tasse, wo der Kaffee kalt geworden war. Das Foto hatte durch die Feuchtigkeit im Haus Eselsohren bekommen, und das verschmitzte Lächeln des Piloten wirkte mit einem Mal traurig. Ein verstummter Bewohner von Gunnarsstaðir. Palli, der Bruder von Elías. Palli und ein schrecklicher Unfall vor vielen Jahren.
Sturm, Schnee, eine Klippe. Dunkelheit.
Eine schreiende Frau, rennende Pferde. Ein Kind weinte.
Blitz, Donner, Steinschlag.
Wirbelnde Hufe, Kreischen.
Dumpfe Geräusche auf den Felsen.
Schnee, der alles stumm zudeckt.
Auch als Ari längst verschwunden war, saß sie da und starrte auf die gleichförmige Maserung des Küchentischs.
Dumpfe Geräusche, wirbelnde Hufe, Kreischen. Schnee, der alles stumm zudeckt.
Was war die Wahrheit? Der Wind heulte ums Haus und flüsterte, dass da draußen ganz andere Dinge von Bedeutung sind, dass der Mensch nur ein Staubkorn ist, welches vom Leben umhergewirbelt wird und manchmal unsanft zu Boden fällt. Ihr wurde kalt.
Lange fühlte Lies sich nicht in der Lage aufzustehen. Pallis Foto auf dem Küchentisch lähmte sie geradezu – mit dem Bild saß die Geschichte in der Küche, und Trauer webte einen Schleier, der schwer auf ihren Schultern hing. Palli, Ísak. Anna Bryndís.
Lies seufzte. Die Küchenuhr verschluckte sich und ließ die alten Geschichten zerfallen.
Lies beeilte sich, das Foto wieder in ihr Zimmer zurückzutragen, damit der Alte nicht sah, dass sie in seiner Vergangenheit gestöbert hatte. Auf dem Rückweg in die Küche dachte sie darüber nach, ob die tragische Geschichte nun in ihrem Zimmer herumhängen und sie am Ende am Schlafen hindern würde. Naja, und wenn – dann würde das Foto eben seinen Platz im Ölofen finden. Schluss, aus.
» Heeeelvíti «, brummte sie, doch selbst das Fluchen machte heute irgendwie keinen Spaß. Die Heiterkeit beim Putzen war sowieso verschwunden. Grimmig kratzte sie die Beläge von den Regalbrettern. Die hatten einen anderen Geruch bekommen. Schärfer, und stechend, als wollten sie etwas mitteilen. Lies schrubbte und kratzte, doch der Dreck war hartnäckig. Jahrzehntealte Marmeladenkrusten, Fettflecken, die sich höhnisch ihrem Schwamm widersetzten, weil ganz offenbar hässliche Dinge in diesem Haus Bestand hatten …
Im Kühlschrank, den sie nur selten öffnete, weil er eh kaum Essen speicherte, sondern Schrauben und Geldscheine, fand sie festgefrorene Speisereste, eine Saugflasche mit Schafsmilch, getrocknete Brotscheiben und weit hinten einen Teller mit grau gewordenen Fleischresten unbekannten Alters, der so gar nicht zu Elías’ Essensakribie passte. An dieses Fleisch konnte sie sich nicht erinnern – wie alt es wohl sein mochte?
Und sie fand die Thermoskanne in der Seitenwand.
»Was zum Henker...« Kopfschüttelnd stand sie vor ihrer Entdeckung. Wurde der Alte etwa senil? Fraß der Zucker sein Gehirn auf?? Was für ein beschissener Tag! Beschissene Geschichten, beschissene Funde – sie hatte keine Lust mehr auf so was. Lies warf entnervt den Schwamm in die Spüle, zog die Jacke über und marschierte in den Stall, die Nase trotzig dem Wind entgegengereckt und weder
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