Der letzte Schattenschnitzer
keiner von ihnen das Gesicht eines anderen. Das war allein dem Ältesten vorbehalten. Ihre Körper waren nicht mehr als Masken, wahrhaftig waren am Ende allein ihre Schatten. Doch einer von ihnen mischte sich womöglich nicht gänzlich mit den anderen, wie sonst konnte er solch einen Verrat vor den anderen verbergen … Bevor aber dieser Gedanke sich vollends aus seinem Dunkel hervorschälte, berührte der Alte noch etwas, das zwischen den gesprengten Ketten ruhte. Und diese Berührung ließ ihn derart tief erschauern, dass er es selbst hunderte Kilometer entfernt in seinem physischen Körper noch zu spüren glaubte. Denn das, was er dort am Grunde des Alchemistenkerkers gefunden hatte, war eine Feder aus Schatten … Und was das bedeutete, wusste keiner so gut wie er.
Der Schatten des Engels hatte sich erhoben. Und die Macht, die er hier unten gespürt hatte, war nicht weniger als der Atem Gottes gewesen. Der Wächter selbst hatte den Schatten des Alchemisten befreit …
Jonas Mandelbrodt war gerade acht Jahre alt geworden, Carmen Maria Dolores Hidalgo zählte knapp drei. Das Anwesen der Familie Hidalgo unweit von Mexico City war in den letzten Jahren stetig gewachsen. Unter anderem waren an das Haupthaus eine kleine Schwimmhalle und eine Art Thronsaal angebaut worden. Letztere war einzig dafür da, dass Carmen Maria Dolores, das Mädchen ohne Schatten, an jedem Mittwoch und Donnerstag der Woche in ihm Pilger empfangen konnte. Den Weisungen Don Ingos entsprechend wurden in dem weiß getünchten Thronsaal, bevor die kleine Maria auf dem schlichten steinernen Thron in seiner Mitte Platz nahm, knöchelhoch Magnolien-, Jasmin- und Orchideenblüten ausgestreut. Diese waren zwar ein nicht unerheblicher Kostenfaktor, der aber nach Meinung Don Inigos die Pilger ehrfürchtig erschauern und sie, wenn es am Ende um eine Spende für die Heilige ging, eher zu einem Grant als einem Lincoln greifen ließ. Der Gedanke dahinter war, dass jemand, der zum Erhalt eines heiligen Ortes, an dem allein die Dekoration einige hundert Dollars kostete, weniger als fünfzig spendete, sich wahrhaft schäbig vorkommen musste. Eine Rechnung, die tatsächlich aufzugehen schien. Woche für Woche spülte der Pilgerstrom zur Hacienda Hidalgo Tausende von guten amerikanischen Dollars in die Börse des Hausherren.
Seine eigene Tochter sah er nur noch selten.
Stattdessen kümmerte sich Mama Cervantes um das Mädchen.
Das greise Kindermädchen war wieder älter geworden, ging inzwischen noch gebeugter einher als zuvor und hatte während der letzten Jahre genug in den Augen ihres Schützlings gelesen, um zu wissen, dass das Kind einmal eine große Bruja , eine bedeutsame Hexe werden würde.
Mama Cervantes hatte weiße Hexen gesehen ebenso wie schwarze, rote und solche, die sich nicht um die Farben ihrer Magie geschert hatten. Sie kannte sowohl die alten Rituale der Aztekenpriester wie auch die der modernen Wiccakulte, und jeden Sonntag entzündete sie für Doña Sebastiana eine Kerze. Der Santa Muerte, der Schutzheiligen der Gauner und Gangster, deren Wesen irgendwo zwischen Magie und Glaube, Heiden- und Christentum anzusiedeln war und die sie aus tiefstem Herzen verehrte.
Mama Cervantes war eine Wissende. Sie hatte die Priester dunkler Kulte in sich aufgenommen, das Blut schwarzer Ziegen ins Weihwasser der Kirche gegeben und dennoch am Sonntag gebetet. Sie hatte mit den Toten gesprochen, Liebeszauber und Flüche gewirkt und verzichtete darauf, das eine Wunder gut und das andere böse zu nennen. Manchen galt sie als weise Frau.
Und welche Zauber das Kind ohne Schatten, das sie allabendlich in den Schlaf sang, dereinst auch wirken mochte, sie würde ihm zur Seite stehen. Denn die Magie, das wusste die alte Mama Cervantes, erwählte sich ihre Schüler selbst, und töricht war der, der sich ihr dabei in den Weg stellte …
Der Hausherr Don Inigo wusste von alldem jedoch nichts. Und es scherte ihn auch nicht, ob es der Glaube oder der Aberglaube war, der schlussendlich seine Börse füllte. Er wollte mehr davon. Hörte sich um, suchte nach Möglichkeiten, die Scheine rauschen zu lassen. Er hatte natürlich überlegt, ob er seine Tochter nicht womöglich jeden Tag auf den Thron setzen konnte. Sein Anwalt aber, Alejandro Ruiz, der sich um die Abwicklung der meisten seiner Geschäfte kümmerte, gab ihm zu verstehen, dass die Behörden – egal wie heilig das Kind auch sein mochte – mit Sicherheit etwas dagegen haben würden. Zumal diese Leute nur auf
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