Der letzte Schattenschnitzer
Darum war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis auch das Mädchen ohne Schatten Teil seines Programms werden sollte.
Padre Ballena, der Chef des Senders, plante eine regelmäßige Liveschaltung zur Hacienda. Sein Titel rührte entgegen der Annahme vieler Leute lediglich daher, dass Ballena, während er irgendwo in Sonora für schweren Raub eingesessen hatte, seinen Stoff in der Gefängniskapelle verkauft hatte. Nun hatte er so etwas nicht mehr nötig. Jetzt wollte er die Bilder gerührter Pilger verkaufen, die auf die Knie gingen, und einen Reporter, der dem Mädchen Fragen stellte, deren Antworten zuvor natürlich abgesprochen werden mussten. Außerdem sollte das Kind inmitten des Blütenmeeres zwei Trailer für die Sendereihen Reliquia und Oculto einsprechen. Nebenbei wollten Don Inigo und Ballena noch über einen Sponsor für das neue Format verhandeln, wobei eine Brauerei aus Puerto Vallerta und eine Fastfoodkette aus San Pedro ganz oben auf der Liste standen, deren beider Vorstände großen Wert darauf legten, sich als gute Christen dargestellt zu wissen.
Zusammen mit Padre Ballena saß Don Inigo, den goldenen Revolver locker im Bund seiner weißen Leinenhose, auf der Terrasse der Hacienda im ersten Stock. Zwischen ihnen eine Schale weißen Pulvers, in ihren Händen Gläser, in denen das Eis langsam schmolz, und zu ihren Füßen Frauen, die pro Abend mehr kosteten, als ein Arbeiter in einem ganzen Jahr verdiente.
Die Verhandlungen verliefen – was nicht zuletzt auch am einfühlsamen Wesen besagter Frauen lag – in ruhigen Bahnen. Ballena, ein Berg von einem Mann, den man heimlich mitunter auch den Heiligen Wal nannte und auf dessen kahlem Kopf die Sonne glänzte, hatte sein Vorhaben erläutert. Daraufhin hatte Don Inigo ihm Zahlen genannt, die sich nun im Verlauf ihres Gespräches ganz allmählich veränderten.
Von der Terrasse aus sahen die beiden Männer die Sonne langsam sinken und die Schatten länger werden, während der letzte Pilgerbus des Tages das Anwesen erreichte.
Unter den misstrauischen Blicken bewaffneter Wachen verließen zwölf Menschen den Bus, dessen Fahrer sich auf den Rand eines Brunnens setzte, um lächelnd eine kurze dunkle Zigarre anzuzünden und sich versonnen durch sein verschwitztes Brusthaar zu fahren.
Alejandro Ruiz, Don Inigos Anwalt und Vertrauter, nahm die Pilger an der Tür des Haupthauses in Empfang. Ruiz war kein wirklicher Anwalt. Das, was er über Recht und Gesetz wusste, hatte er im Gefängnis gelernt, und alles andere war Menschenkenntnis und Bauernschläue, die er sich im Laufe seines Lebens angeeignet hatte. Mit ihrer Hilfe hatte er Don Inigo Hidalgo jedoch bereits manches erspart, wofür dieser ihn fürstlich bezahlte. Abgesehen davon hatte Ruiz allerlei Kontakte, die für jede Art von Geschäft nützlich waren. Ihm war es letztendlich auch zu verdanken, dass Padre Ballena, den er in einer Gefängniskapelle in Sonora kennengelernt hatte, an diesem Abend den Weg auf die Hacienda gefunden hatte.
Davon abgesehen kümmerte sich Ruiz, wann immer es ging, persönlich um die Pilger. Denn er hatte einen Riecher dafür, wann irgendeine greise Witwe, die für das Seelenheil ihres verstorbenen Mannes betete, mehr auf der Bank hatte als gewöhnlich üblich. Und solchen Witwen verschaffte Alejandro Ruiz dann gegen eine fromme Gebühr Einzelaudienzen mit Mexikos Wundermädchen. Heute aber, das hatte er bereits auf den ersten Blick ausmachen können, war niemand Lohnendes unter den Pilgern. Außerdem war er in Gedanken längst oben auf der Terrasse bei Don Inigo und dem Padre. Und da dies nun schon die zwölfte Gruppe an diesem Tag war, fiel sein Vortrag über das Wunder der Hacienda Hidalgo durchaus ein wenig lieblos aus. Die kleine Gruppe aber, die hinter ihm ins Innere des Hauptgebäudes strebte, scherte sich ohnehin nicht um die Worte des kleinen Mannes. Sie waren gekommen, das Kind ohne Schatten zu sehen, den Saum seines Kleides zu küssen und zu seinen Füßen einen Lottogewinn, das Ende ihrer Arthrose, von Arbeitslosigkeit oder irgendeiner Krankheit herbeizubeten.
Während Ruiz’ Vortrag über die Gnade des Herren, der Carmen Maria Dolores mitsamt ihrer Sünden auch ihren Schatten genommen hatte, langsam endete, führte er die Gläubigen durch die Eingangshalle und die Korridore im Erdgeschoss des Haupthauses, vorbei an kitschigen Heiligenbildchen in prunkvollen Goldrahmen und unrasierten, verschwitzten Aufpassern mit überdimensionierten Sonnenbrillen.
Und dann
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