Der letzte Schattenschnitzer
Entschlossenheit an. Dies war seine Chance, sein Versagen in Saint Murebod wiedergutzumachen. Und er würde nicht noch einmal versagen. Nicht hier in Ambrì.
Als Erstes ließ de Maester einige Strommasten vor Ambrì fällen und die Leitungen kappen. Dann brachten seine Männer schwere Militärjeeps mit Satellitenschüsseln in Stellung und überzogen den Ort mit einem Störsignal. Zuletzt sperrten sie die Zufahrtsstraßen.
De Maesters Truppe bestand aus zwei paramilitärischen Einheiten, die sich jeweils aus Söldnern, Rockern und den Angestellten dubioser Sicherheitsfirmen zusammensetzten. Sie alle waren bis an die Zähne bewaffnet und ihre Uniformen mit den alten magischen Symbolen versehen, die ihnen Schutz vor der unbändigen Gewalt der Schatten verleihen sollten. Diese Männer würden nicht abziehen, bis der Wächter nicht die Kinder herausgegeben oder ihre Einheit den Ort mitsamt seiner Bewohner dem Erdboden gleichgemacht hatte.
Wer in die Augen der versammelten Männer blickte, der wusste, dass Ambrìs Schatten brennen würden. Und Boris de Maester würde diese Flammmen schüren, bis nichts mehr von ihnen übrigblieb.
John Dee
ALCHIMIA UMBRARUM (1604)
Kapitel V
(Seite 68 f.)
VON DEN ZWEI LEHREN
D ie Kunst der Schattenkunde ist eine der ältesten magischen Künste der Welt. Auf ihr fußen die großen magischen Lehren. Die Kraft der Schatten ist alt wie die Menschheit selbst, und sie findet sich ebenso in den Runen der Germanen wie auch in den Worten der jüdischen Kabbala oder den Texten alter arabischer Gelehrter. Schon der Schatten des Baums der Erkenntnis ließ Adam erschauern, Schatten erleuchteten die Gelehrten Chaldäas, mit ihrer Hilfe begeisterte Moses den Pharao, und der Schatten Dschingis Khans war es, der die Mongolen von Sieg zu Sieg peitschte. Beinahe ebenso viel ward über die Macht der Schatten geschrieben wie vergessen. Aberwitzig groß ist dennoch die Zahl der Bücher, die von ihrer Kraft handeln.
Aus dem alten Wissen vergangener Zeitalter erstanden die großen Lehren, von denen zwei dieser Tage die magische Welt beherrschen. Es ist dies zum einen die Schule der Schattenschnitzer, welche die ältere der beiden ist. Sie steht am ehesten in der Tradition der ursprünglichen Lehren, wobei ihr Umgang mit den Schatten geprägt ist von gegenseitigem Respekt zwischen dem Magiekundigen und den Schatten. Im Geiste der alten Chaldäer billigen die Anhänger dieser Schule dem Schatten ein eigenes Leben zu und betrachten ihn als mehr denn einen bloßen Knecht des Menschen.
Im Gegensatz dazu steht die jüngere Schule der Schattensprecher, die ihr oberstes Ziel in der völligen Beherrschung der Schatten sieht und ihn selbst für nicht mehr als ein Instrument erachtet, das dem Kundigen zum Erreichen seiner Ziele und dem Wachstum seiner Macht dient. Das Erlangen weltlicher Macht ist das zentrale Element der Anhänger dieser jüngeren Lehre, und sie schrecken dabei auch nicht davor zurück, das Magische mit dem Profanen zu verknüpfen.
Und während die Worte dieser Schrift noch im Geiste der älteren Schule abgefasst werden, ist doch längst die jüngere erstarkt. Verfolgt und geschmäht, ist die magische Gilde der Schattenschnitzer inzwischen beinahe gänzlich vom Antlitz der Welt verschwunden. An ihrer statt herrschen heute die Schattensprecher und über allem ihr Rat. Ihre Macht wächst stetig, ihr Vermögen ist immens, und ihre Soldaten harren nur darauf, sich mit den Schatten zu verbinden. Mögen diese Lettern Kunde geben von einer besseren Zeit, als Magie nicht allein Mittel zur Macht und die Schattenschnitzer noch Herren des Limbus waren …
13.
»I’ve been watching, I’ve been waiting
In the shadows all my time.«
The Rasmus, In the Shadows
G eschwächt fand Jonas Mandelbrodts Schatten seinen Weg durch die Welt, glitt über Berge und durch Täler und kannte dabei keine Grenze, die je gezogen worden war. Doch dabei spürte er die Wunden, die ihm der schwarze Sturm geschlagen hatte. Am Ende hatte er den Park der Monster nur mit Hilfe des Ältesten verlassen können. Dessen Schatten war in ihn gedrungen und hatte ihm schmerzhaft bewusstgemacht, wie schwach er im Vergleich zu den Dingen war, denen er sich entgegenstellen sollte …
Als Jonas schließlich Ambrì und seinen Körper erreichte, spürte er, dass sich etwas verändert hatte. Die Schatten waren in Aufruhr. Zu seiner Erleichterung fand er Maria unversehrt in der Zuflucht vor, im Schatten des Engels ruhend. Kaum hatte
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