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Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Titel: Der letzte Weynfeldt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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das ist fair, dachte er. Nicht zehn Prozent vom erzielten Preis, er kannte seine Grenzen. Aber zehn Prozent vom Rufpreis. Wenn sie zwei oder drei Milliönchen erzielen, ist das Vallottons Verdienst. Aber dass sie überhaupt beginnen können, und zwar vielleicht mit einer Million, das haben sie Strasser zu verdanken.
    Er erreichte die Straße wieder, die er weiter unten verlassen hatte. Er erkannte von weitem Baiers Haus. Schemenhaft ragte es aus seinem Garten voller Nadelholz und Moorbeetpflanzen. Es war dunkel bis auf die diagonale Fensterreihe des Treppenhauses.
    Ein Auto näherte sich im vorgeschriebenen Dreißigstundenkilometertempo und blendete Strasser einen Moment, bis der Fahrer ihn entdeckt und abgeblendet hatte. Es war ein Bentley mit fast unhörbarem Motor. Die Erscheinung machte Strasser so sauer, dass er seinen Anteil um ein Prozent erhöhte. Hundertzehn-anstatt hunderttausend war der Betrag, ohne dessen feste Zusage Strasser nicht darauf verzichten würde, Baier auffliegen zu lassen.
    Er öffnete das Gartentor, ging über den Granitplattenweg zur Eingangstür und klingelte.
    Keine Reaktion. Er klingelte noch einmal, diesmal etwas länger. Erst beim dritten Mal meldete sich Baiers gereizte Stimme in der Gegensprechanlage. »Ja«, sagte sie unwirsch.
    »Rolf Strasser, ich muss Sie sprechen.«
    »Wissen Sie, wie viel Uhr es ist?«
    »Glauben Sie, ich habe den Weg auf mich genommen, um Ihnen eine Zeitansage zu machen.«
    »Kommen Sie morgen wieder.«
    »Schön. Aber dann gehe ich vorher kurz bei ›Murphy’s‹ vorbei und erzähle denen, wer Ihren Vallotton gemalt hat.«
    Baiers Türöffner surrte.

11
     
    Giuliano Diaco hatte den dunkelroten Samtvorhang beiseitegezogen. Die Sonne warf ein gleißendes Viereck auf den abgetretenen Orientteppich. In diesem unbarmherzigen Licht begutachteten sie die Stoffe.
    Diaco rollte ein paar Meter vom Stoffballen ab und legte sie Weynfeldt von hinten über die Schulter. Weynfeldt musterte sich im Wandspiegel, über der rechten Schulter die Stoffbahn, über der linken die kritischen Augen des kleingewachsenen Schneiders, der knapp über Weynfeldts Schulter blicken konnte.
    Ein dünner Schleier aus Staubpartikeln schwebte in den Sonnenstrahlen. Es roch nach neuem Stoff. Weynfeldt liebte den Geruch. Er rief Bilder aus seiner Kindheit hervor. Sein Vater in einem neuen Anzug. Sein Lieblingsversteck in seines Vaters Kleiderschrank. Die Anmessungen und Anproben seiner kleinen Anzüge mit Knickerbockers und kurzen Hosen in ebendieser Schneiderwerkstatt.
    Giuliano Diaco führte das Geschäft in der dritten Generation. Sein Vater, Alfredo Diaco, hatte es ihm vor fünf Jahren übergeben. Aber er tauchte immer noch regelmäßig im Laden auf, und die älteren Schneider redeten ihn noch immer mit »padrone« an, der er in Tat und Wahrheit auch noch immer war.
    Seit einer halben Stunde stand Weynfeldt nun schon in Diacos Stofflager und ließ sich Stoffe zeigen. Alle aus Merinowolle, alle Top Line Plus Plus, die beste Qualität. Er brauchte einen Anzug für diesen Frühling mitten im Winter. Das heißt, brauchen war zu viel gesagt, er besaß einen begehbaren Schrank voller Anzüge. Er ging einfach gerne zu seinem Schneider, und dieses Wetter war ein brauchbarer Vorwand, es ein zusätzliches Mal zu tun.
    »Wissen Sie, was ein Body Scanner ist?«, fragte Diaco.
    »Etwas aus der Hightechmedizin?«
    »Ein Body Scanner nimmt Ihnen in Sekunden ein paar Millionen Maße. Mit diesen schneidet Ihnen ein anderer Computer Ihren Anzug zu. Und irgendwo in Tschechien wird er dann zu Billigstlöhnen zusammengenäht.«
    Weynfeldt seufzte. »So sieht also die Zukunft Ihres schönen Handwerks aus.«
    »Was heißt die Zukunft? Hier in der Stadt gibt es schon so ein Ding. Die verkaufen Ihnen einen Maßanzug für unter tausend Franken. Und verdienen dick daran.«
    Kein Wunder, machte sich Diaco Sorgen. Bei ihm war ein Anzug kaum unter dem Zehnfachen zu haben. »Es wird immer Leute geben, die nicht auf das Anmessen, das Gespräch mit Ihnen, diese Stunde ausschließlicher Beschäftigung mit ihrem Äußeren verzichten wollen«, tröstete ihn Weynfeldt.
    »Das können die immer noch haben. Der Ladenbesitzer tut, als nehme er Maß, und in der Umziehkabine scannt die Maschine den Kunden, ohne dass er es merkt. Nein, nein, Dottore, uns können Sie abschreiben, wir sind am Ende.«
    Dottore hatte ihn Diacos Vater genannt, noch ehe Adrian die Dissertation begonnen hatte. Und dieser Titel hatte den Generationenwechsel

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