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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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gefaltet hatte, segelte von dem Regal, auf dem Elsa sie platziert hatte. Die Schranktür, die nur angelehnt gewesen war, schwang auf.
    Und plötzlich kam noch etwas anderes als bewegte Luft zum Fenster herein. Elsa schrie auf und kauerte sich an das Kopfende ihres Bettes. Ein grauer Fellklumpen landete in den Schatten am Fußende. Mit dunkelblauen Augen spähte er zu ihr herauf, die Ohren aufgestellt. Elsa presste sich die Fäuste auf den Mund, zu entsetzt, um nach Hilfe zu rufen.
    Der Hund jedoch verlor schnell das Interesse an ihr und senkte die Nase auf den Boden. Er beschnupperte die Holzdielen, bis er den geöffneten Kleiderschrank erreichte. Er stemmte sich mit den Vorderpfoten auf den Schrankboden, steckte den Kopf hinein und schnüffelte an Elsas Kleidern.
    Als er wieder hervorkam, hielt er behutsam die Geschenke ihrer Mutter zwischen den Zähnen. Sie waren noch immer in das glänzend rote Papier gewickelt, und obwohl Elsa sie bisher nicht geöffnet hatte, machte ihr Herz einen Satz bei der Vorstellung, dass der Hund sie stehlen oder kaputt machen könnte. Er trug sie zur anderen Seite des Zimmers und machte einen Satz auf das Fensterbrett.
    Elsa sprang aus dem Bett. »Warte!«, schrie sie.
    Dem Hund schienen die drei Stockwerke Höhe nichts auszumachen. Sein Hinterteil senkte sich, als er die Knie beugte, wie um zum Sprung anzusetzen.
    Sie streckte die Arme nach ihm aus. »Gib das wieder her! Bitte!«
    Er wedelte mit dem Schwanz. Das haarige Ende fegte über den Fensterrahmen.
    »Bitte.«
    Der Hund spannte den Körper an. Er würde springen.
    Elsa stürzte nach vorn, um ihm die Päckchen zu entreißen, doch im letzten Moment ließ er sie anstandslos in ihre ausgestreckten Hände fallen. Als sie sie schützend an ihre Brust drückte, leckte sich der Hund flüchtig mit der Zunge über die Nase und machte dann einen lockeren Satz aus dem Fenster. Elsa blickte ihm nach, doch er war schon verschwunden. Alles, was sie sah, war eine Wetterfahne, die sich langsam nach Süden drehte.
    Sie schloss die Fenster und ließ sich auf ihr Bett fallen, die Geschenke noch immer in den Armen. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen oder einfach erleichtert in sich zusammensacken sollte. Ihrem Zwerchfell, das einen halb erfreuten, halb verängstigten Hickser von sich gab, schien es genauso zu gehen.
    Nach einer Minute wischte sie sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts über die Augen und legte die Geschenke nebeneinander auf die Matratze. Sie waren beide quadratisch und flach, das eine aber gab beim Drücken nach, während das andere sich hart anfühlte. Erst jetzt fiel Elsa auf, wie schön das dunkelrote Papier glänzte, das ihre Mutter ausgesucht hatte. Mit größter Vorsicht schob sie den Finger unter den Klebestreifen des ersten Päckchens.
    Als sie sah, was es war, musste sie sich abwenden und warten, bis die plötzlichen Tränen von ihren Wimpern geperlt waren. Auf der anderen Seite des Fensters hörte sie das Pfeifen des Windes.
    Es war ihre Lieblingsschallplatte. Nina Simone At Town Hall. Elsa musste fünf Jahre alt gewesen sein, als sie die Platte aus der Sammlung ihres Vaters stibitzt und beschlossen hatte, sie nie wieder herzugeben. »Du hast wirklich Geschmack«, hatte ihr Dad einmal angemerkt, aber sie hatte sich das Album genau aus dem Grund ausgesucht, weil es seine Lieblingsplatte war. Später fand sie auch andere Musik, die ihr gefiel, Lieder, deren Texte oder Melodien sie direkt ins Herz trafen, doch ihre Liebe zu dieser einen Platte war nie vergangen. Sie war mit den Liedern darauf aufgewachsen und kehrte in bestimmten Momenten immer wieder zu ihnen zurück. Vor ein paar Tagen noch hatte sie sich gewünscht, die Platte hören zu können, ohne zu wissen, dass sie die ganze Zeit über eingepackt in ihrem Zimmer lag. Dies war das einzige Besitztum ihres Vaters, das ihre Mutter ihm nicht in den Regen hinterhergeworfen hatte, und es war der Soundtrack gewesen, zu dem Elsa erwachsen geworden war, zu dem sie Oklahoma verlassen hatte. Sie hatte die Platte an ihren ersten Abenden in New York gehört und so laut aufgedreht, wie ihr billiger Plattenspieler es zugelassen hatte. Sie hatte sie gehört, während das Rumpeln der U-Bahnen ihre Wände erzittern ließ, oder während sie, wie so oft damals, am offenen Fenster saß.
    In den letzten Wochen, bevor sie New York verlassen hatte, um nach Thunderstown zu ziehen, hatte sie all ihre Sachen verkauft oder weggeworfen. Nur wenige von ihnen überstanden die Räumungsaktion

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