Der Mann mit dem Fagott
Dächern montierten Klimaanlagen und Ventilatoren übertönt.
Ist das ein Gefühl von »Ruhe vor dem Sturm« oder eher die berühmte »Stille nach der Schlacht«? Frage mich, was aus den Menschen, die heute auf der Straße liegengeblieben sind, geschehen ist, ob sie noch leben. Spreche den Gedanken nicht aus, doch Junius scheint zu erraten, woran ich denke.
»Was du heute gesehen hast, das ist nur eine Realität von Harlem«, versucht er zu erklären. »Es ist das bittere, harte Gesicht. Aber es ist nicht das einzige. Du kannst überall abgleiten, drogensüchtig werden, kriminell oder in die falsche Gesellschaft geraten. Aber wenn du hier nicht untergehst, bist du stärker als alle anderen. Daran glaube ich ganz fest.«
Junius zündet sich eine Zigarette an, bietet mir auch eine an, gibt mir Feuer, nimmt einen tiefen Zug.
Ich verstehe vielleicht zum ersten Mal, daß es nicht um Abstumpfung geht, sondern um ein Aufsparen der Kräfte für das, was wirklich wichtig ist, den eigenen Weg, beobachte Tauben, die auf einem der Dächer sitzen, ganz friedlich und ruhig.
»Natürlich kostet es Kraft«, fährt Junius schließlich nachdenklich fort, »und es ist ein ständiger Kampf, obenauf zu bleiben, wenn das Geld für die Krankenversicherung mal wieder nicht reicht, wenn wir meine Mutter mit ihren Asthmaanfällen nicht zum Arzt bringen können, weil der unbezahlbar ist und man uns im Krankenhaus wieder wegschickt, weil es nicht schlimm genug sei. Natürlich hat es uns geprägt, daß mein Bruder und ich meiner Mutter lesen und schreiben beibringen mußten, weil sie es in der Schule nicht gelernt hat. Natürlich ist es schlimm, daß so viele Menschen hier Analphabeten sind. Jeremy ist nicht der einzige in unserer Clique, der nicht viel mehr als seinen Namen schreiben kann, weil er in der Schule durch den Rost gefallen ist. Große Klassen, schlecht ausgebildete Lehrer. Der Staat nimmt das einfach hin, es ist nicht einmal ein Thema …« Er macht eine Pause. »Und natürlich kostet es unendlich viel Kraft, wenn die Frau, die man liebt, im Drogenrausch in einem Straßengraben stirbt.«
Junius schluckt, beeilt sich aber weiterzusprechen, möchte ganz offenbar nichts dazu gefragt werden, fährt hastig fort: »Und selbstverständlich ist es ganz und gar nicht einfach, wenn wir jeden Monat
darum zittern müssen, daß mein Vater seinen Arbeitsplatz behält. Natürlich darf er nicht krank sein, denn für Tage, an denen er nicht arbeitet, bekommt er eben kein Geld, und wenn er weniger Geld bekommt, können wir uns die Miete nicht leisten, und wenn er zu lange fehlt, wird er durch einen anderen ersetzt. So ist das eben. Aber es geht irgendwie.« Er schenkt uns noch einen Schluck Wein aus der schon fast leeren Flasche nach. »Und auch die Tatsache, daß mein Bruder und ich studieren, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ein Privileg, für das meine Familie und natürlich vor allem wir beide Semester für Semester wieder hart kämpfen müssen. Es wird uns nichts geschenkt, aber eines weiß ich: Ich werde mein Stipendium Semester für Semester wieder erhalten, auch wenn ich dabei nicht mehr zum Schlafen komme. Ich werde dieses Studium abschließen, und dann werde ich etwas für die Menschen hier tun.«
Die letzten Sätze hat Junius mit großer Bestimmtheit ausgesprochen, wie um sich selbst Mut zu machen. Er nimmt den letzten Zug seiner Zigarette, wirft sie zu Boden, tritt sie mit dem Fuß aus, schiebt sie nach vorn und unter dem Balkongeländer durch aus unserem Blickfeld.
»Hast du jemals von der Bewegung um Martin Luther King gehört?« fragt er mich plötzlich, scheinbar zusammenhanglos.
Ich denke einen Augenblick lang nach, schüttle dann unsicher den Kopf, eine vage Ahnung, mehr nicht. »Irgendwo habe ich den Namen schon gehört, aber im Moment weiß ich nicht, wo …«
Junius nickt. »Er ist eigentlich baptistischer Pastor, seit kurzem Präsident der ›Southern Christian Leadership Conference‹, einer Bürgerrechtsbewegung, die sich mit ausschließlich gewaltfreien Mitteln für die Menschenrechte von uns Schwarzen einsetzt. Eine Art ›Gandhi der Schwarzen‹. Es hat alles vor einem Jahr mit dem Busboykott von Montgomery angefangen. Das war eine Reaktion auf die Festnahme einer Schwarzen, die sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz für einen Weißen freizumachen, wie es das Gesetz von ihr verlangt hätte. Martin Luther King hat den Boykott angeführt. Daraufhin haben Gegner Kings Haus in die Luft gesprengt, er
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