Der Mann mit dem Fagott
Spalt hinter dem heißen Ofen in unserer Klasse zu stehen. Man muß den Kopf zur Seite drehen, sonst paßt man nicht hinein und verbrennt sich.
Der Lehrer Sauer macht dabei nicht einmal einen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. Wenn er so richtig wütend wird, wird sein Gesicht ganz rot, eine dicke, zweigeteilte Ader auf seiner Stirn tritt hervor, und er prügelt mit seinem Stock wild auf denjenigen oder diejenige ein, die ihm gerade in die Quere kommt. Manchmal steigert er sich so in seine Wut hinein, daß er, auch wenn man schon auf dem Boden liegt, nicht aufhört und nach dem Schlagen auch noch tritt. Dann müssen ein paar von den Größeren eingreifen und ihn zurückhalten, damit er aufhört. Er zappelt dann noch wild mit den Armen und Beinen, und die Großen haben alle Hände voll zu tun, den Sauer festzuhalten.
Wir haben nämlich nur eine einzige Klasse für alle Altersgruppen. Alle sitzen im selben Raum, und während die Großen Mathematikaufgaben
lösen, müssen die Drittklässler etwas lesen, die Zweitklässler Schreibübungen machen, und die Erstklässler erhalten Rassenkundeunterricht. Und wehe, wenn einer auf die Frage, welcher Rasse dieser furchterregende Untermensch auf dem Bild angehört, nur sagt: »Das ist ein Jude!« Das kann schon reichen, damit Lehrer Sauer böse wird. Zumindest gibt es für diese Antwort bestenfalls eine Drei. Nur wer sagt, »Das ist ein Sau-Jude«, bekommt eine Eins und ist vor den Attacken fürs erste sicher.
Welche der Bestrafungen die schlimmste ist, ist schwer zu sagen. Sie sind alle schrecklich. Ich hab sie alle schon erlebt, wie jeder in meiner Klasse.
Nur wer das »Kleid des Führers« trägt, ist geschützt. Deshalb gehen alle, die in der HJ oder im BDM sind, in Uniform oder wenigstens in Uniformteilen in die Schule. Und die wenigen, die übrig sind, bekommen die Wut ganz alleine ab. Manchmal haben wir überlegt, unseren Eltern zu erzählen, was der Sauer mit uns macht, aber ein deutscher Junge ist schweigsam, sein wichtigstes Gut ist die Ehre, und die wollen wir nicht verlieren.
Alle Schüler hassen unseren Aushilfslehrer. Er erzählt auch alles aus der Klasse der Gestapo. Vor kurzem hat der Alois aus meiner Bank in der Klasse erzählt, daß sein Vater gesagt hat, der Krieg sei sowieso verloren. Am nächsten Tag hat die Gestapo den Vater von Alois abgeholt. Jetzt wissen sie nicht, wo er ist. Das hat natürlich der Sauer gepetzt.
Meine Knie tun immer noch weh von der letzten Bestrafung mit dem Holzscheit. Ich hatte unsauber geschrieben, und das gehört sich natürlich nicht für einen deutschen Jungen. Ich kann machen, was ich will, irgendwie kommt immer ein Fettfleck oder ein Tintenklecks in mein Heft. Ich passe so gut auf, und trotzdem passiert mir ständig so eine Sauerei. Wenn ich da an Benedikt aus meiner Klasse denke, der immer dreckig ist, der sich, glaube ich, niemals wäscht - aber seine Hefte sind immer die schönsten der ganzen Klasse: kein einziger Fleck, kein ausgestrichener Buchstabe, nicht einmal ein Eselsohr, noch nicht mal ein ganz kleines. Mit wunderschöner Schrift schreibt er seine Hausaufgaben in sein Heft. Ich weiß wirklich nicht, wie er das macht!
Aber vielleicht hat der Lehrer Sauer ja auch recht, wenn er sagt, ich sei wirklich zu nichts zu gebrauchen. Im Sport bin ich eine
Niete, in Rechnen und Rechtschreiben auch. Ständig bin ich krank und fehle in der Schule, und auch bei der Arbeit auf den Feldern bin ich alles andere als tüchtig. Aber jetzt, mit dem neuen Hemd, wird sicher alles besser werden. Ich werde mich bemühen wie noch nie in meinem Leben, dann wird es schon gehen. Vielleicht werde ich in drei oder vier Jahren auch Flakhelfer sein wie einige meiner älteren Freunde. Das bringt dann noch größere Ehre mit sich als nur das Hemd; als Flakhelfer ist man schon ein bißchen etwas Besonderes. Da kann einen nicht mehr jeder so herumschubsen wie es ihm gerade paßt.
Und das schönste ist die Kameradschaft, das haben die Großen erzählt, die schon in der HJ sind. Das muß ein schönes Gefühl sein. Wir werden im Zeltlager sein, gemeinsam Abenteuer bestehen, Musik machen. Und wenn man gut ist in der HJ, kann man es zu etwas bringen. Man kann sich sogar später zum Flieger ausbilden lassen. Dann hat man wirklich etwas erreicht. Joe möchte am liebsten Flieger werden; jedenfalls hat er mir das irgendwann mal erzählt, und bei ihm kann ich mir das auch sehr gut vorstellen, denn schließlich ist er tapfer und stark und klug und
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