Der Mann mit dem Fagott
spielen. Schließlich gibt es viel zu wenige Märchen in der Wirklichkeit dieses Landes. Daß er selbst es nun tatsächlich zu etwas gebracht hat, ist eines davon. Und daß er heute diesen Mann empfangen und vielleicht sein Leben für immer verändern wird, könnte ein anderes sein.
Unruhig blickt er auf die große Uhr an der Wand seines Büros. Noch fünf Minuten - wenn der Mann pünktlich ist … Der Brief von Bockelmann liegt bereit. Er spielt gedankenverloren mit ihm, als es pünktlich um sieben an seiner Tür klopft und der Wachmann mit diesem seltsamen Gesellen vor ihm steht. Er sieht aus wie gestern in seinem etwas verschlissenen Gehrock. Den Zylinder und die seltsamen, abgeschnittenen Handschuhe trägt er in der Hand, und das Instrument führt er anscheinend in jenem braunen, abgenutzten Koffer mit den Messingbeschlägen bei sich, in den Kropotkin gestern den Brief und ein paar Kopeken geworfen hat. Offenbar kommt er direkt vom Spielen am Bahnhof.
Der Besucher begrüßt Kropotkin mit »Barin«, was ihm gefällt, obwohl diese Anrede offiziell abgeschafft ist. Der Mann hält den Zettel von gestern in der Hand. »Entschuldigen Sie, aber …«
Kropotkin läßt ihn nicht ausreden, nickt nur rasch und energisch, bittet den Mann herein, schickt den Wachmann weg. Man
setzt sich. Der Besucher blickt sich unruhig in dem imposanten Raum um. Er hat ganz offensichtlich keine Ahnung, was er hier soll.
Kropotkin bietet ihm Tee aus dem Samowar in der Ecke an, den der Fremde dankbar annimmt. Er nimmt einen hastigen Schluck, wärmt dann seine Hände an der Tasse.
»Sicher werden Sie sich über diesen Zettel sehr gewundert haben«, beginnt Kropotkin dann bedächtig, und der Mann nickt ratlos und hoffnungsvoll. Am liebsten würde Kropotkin sagen: »Hier halte ich Ihre Zukunft in meinen Händen.« Aber das erscheint ihm dann doch zu pathetisch, und er entscheidet sich lieber, dem Mann von jenem seltsamen gemeinsamen Bekannten namens Heinrich Bockelmann zu erzählen, diesem Deutschen, der diese Bank früher geleitet habe.
Der Besucher nickt langsam. An den Namen erinnert er sich gut, wenn es auch eine Begegnung aus einer völlig anderen Zeit zu sein scheint, aber die Erinnerung ist mit einem positiven Gefühl verbunden.
»Jedenfalls hat dieser Bockelmann schon vor langer Zeit das Land verlassen, und es scheint ihm dort, wo er jetzt lebt, wieder gutzugehen«, der Besucher nickt ratlos. Offenbar hat er immer noch keine Ahnung, was das alles hier mit ihm zu tun haben soll. Kropotkin macht es Spaß, den Besucher langsam an den Kern der Sache heranzuführen.
»Ist das Spielen am Bahnhof Ihr einziger Lebensunterhalt?«
Der Mann scheint von der Frage verwirrt, doch dann antwortet er höflich: »Beinahe. Der kleine Antiquitätenladen in der Twerskaja, den meine Familie aufgebaut hat, wurde enteignet. Ich darf als ›Angestellter‹ für einen geringen Lohn dort weiter arbeiten. Aber wer kauft in Zeiten wie diesen schon Antiquitäten!« Er schüttelt den Kopf. »Und als Lehrer will mich keiner, weil ich in Deutschland gelebt habe und daher politisch als unsicher gelte. Was will man schon machen. Zum Glück habe ich wenigstens mein Fagott. Ein Musiker kann mit seinem Instrument immer irgendwie überleben. Aber warum interessiert Sie das, Barin?«
Kropotkin nimmt genüßlich einen weiteren Schluck von seinem Tee. »Es scheint jedenfalls unseren gemeinsamen Bekannten Heinrich Bockelmann sehr zu interessieren, wie es Ihnen ergeht.
Er selbst hat es, nachdem für ihn hier alles eingestürzt ist, in seiner Heimat tatsächlich noch einmal geschafft. Gerade hat er ein großes Landgut in Norddeutschland gekauft, wo er mit seiner Familie lebt. Und Anteile der Bank Löwenherz in Berlin, so hat er mir geschrieben. Na ja, hier bei uns wäre so etwas natürlich inzwischen undenkbar, und das ist auch gut so, aber in Deutschland weht eben ein anderer Wind.«
Der Besucher nickt mit unbestimmtem Interesse. Das Lebensglück anderer ist zwar schön, und daß es diesem merkwürdigen Bockelmann anscheinend wieder gutgeht, freut ihn, aber sollte der ganze Aufwand nur für diese Information gemacht worden sein? Das scheint ihm dann doch ein wenig merkwürdig.
Kropotkin entschließt sich, endlich zur Sache zu kommen. »Nun, Sie fragen sich sicher, warum ich Ihnen das erzähle.«
Der Besucher nickt und blickt ihn fragend an.
»Kurz gesagt, Sie scheinen in Bockelmanns Leben irgendwie eine besondere Rolle gespielt zu haben, und er hat mich gebeten, ihm
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