Der Mann mit dem Fagott
dabei zu helfen, Ihnen nun seinerseits eine Art Lebenshilfe zukommen zu lassen. Was es damit genau auf sich hat, steht in dem für Sie bestimmten Brief hier.« Er gibt dem Mann einen verschlossenen Umschlag, der in Heinrich Bockelmanns entschlossener, geübter Handschrift die seltsame Anschrift trägt: »An den Mann mit dem Fagott, Moskau«.
»Ich bin nur der Bote. Ich habe keine Ahnung, was genau in diesem Brief steht. Er hat mich nur gebeten, Sie zu finden, Ihnen diesen Brief zu überreichen.«
Der Besucher sieht Kropotkin unsicher an, dann beginnt er mit einer entschlossenen Geste den Brief zu öffnen.
Kropotkin geht zu dem edlen Mahagoniwandschrank, in dem sich eine Bar verbirgt, holt sich eine Flasche und gießt sich Wodka in seinen Tee. »Sie auch?« Der Fremde nickt abwesend. Er hat inzwischen den Brief geöffnet und liest:
Lieber Freund,
ich spreche Sie so an, weil Sie in meinem Leben immer wieder ein gutes Omen waren, mir mit Ihrem Spiel Mut gemacht haben, meinen Weg zu gehen. Das erste Mal in Bremen im Winter 1891, als Sie ein russisches Volkslied spielten und mir mit dieser Begegnung
die Entscheidung leichter gemacht haben, mein Glück in Rußland zu versuchen. Dann bin ich Ihrem in Bronze gegossenen Ebenbild in jener Statue im Antiquitätenladen in der Twerskaja wieder begegnet und habe sie von meinem Schwiegervater als Hochzeitsgeschenk bekommen. Und als ich in Moskau im Frühling 1915 vor der Entscheidung stand, zu fliehen oder in die Verbannung zurückzukehren, erschien es mir fast wie ein Wunder, Sie am Petersburger Bahnhof spielen zu hören. Damals haben wir auch ein längeres Gespräch geführt.
Wassilij Sergejewitsch Kropotkin, den ich gebeten habe, den »Mann mit dem Fagott« zu suchen, hätte Sie nicht dort gefunden, wo ich ihn zu suchen bat, wenn sich Ihr Leben inzwischen zum Besten gewandt hätte, und Sie hielten meinen Brief nicht in Ihren Händen. Meine Flucht nach Schweden ist geglückt. Ich bin mit meiner Familie wieder vereint und mein Leben hat sich dank der Starthilfe, die mir ein kluger Mann gab, wieder zum Guten gewendet. Die gleiche Chance möchte ich nun Ihnen geben:
Bei der Bank »N. M. Rothschild And Sons« in London liegt unter dem Paßwort »Der Mann mit dem Fagott« Geld für Sie bereit. Es ist zuwenig für einen dummen Mann, um sich ein schönes Leben zu machen, aber genug für einen klugen Mann, um sich etwas aufzubauen. Der Weg nach London wird Ihnen irgendwann gelingen.
In unserem Schicksal sind wir uns nicht unähnlich mit unseren beiden Heimaten, die es uns schwermachen. Ich fühle mich Ihnen eng verbunden.
In diesem Sinne verbleibe ich in großer Herzlichkeit,
Ihr Heinrich Bockelmann.
PS: Einen persönlichen Wunsch habe ich! - Ich würde Sie sehr gern noch einmal auf Ihrem Fagott spielen hören. H.B.
Der Besucher hat stumm gelesen. Seine Haltung ist angespannt. Schweigend reicht er Kropotkin den Brief und legt seine Hände gedankenverloren an die Tasse. Er spürt ihre Wärme, und das ist das einzige klar benennbare Gefühl, das er im Augenblick des inneren Aufruhrs hat. Um die Tasse an den Mund zu führen, zittern seine Hände viel zu sehr. Tausend Gedanken in seinem Kopf. Wirklichkeiten haben sich in Augenblicken völlig verändert.
Nichts ist mehr so, wie es noch vor wenigen Minuten schien. Irgendein merkwürdiges Schicksal hatte ihn zweimal die Wege dieses Mannes kreuzen lassen. Kleine, eigentlich fast unbedeutende Begegnungen. Jetzt veränderten sie alles.
Kropotkin hat zu Ende gelesen. Er blickt langsam auf. »Ich gratuliere Ihnen, aber den Weg nach England müssen Sie alleine schaffen, davon will ich nichts wissen.«
Draußen hat es in dicken, weißen Flocken zu schneien begonnen. Kropotkin steht wortlos auf, holt zwei Gläser aus der Bar, gießt sie halbvoll mit Wodka. »Auf Ihre Zukunft!«
»Auf Direktor Bockelmann«, ergänzt der Besucher und leert das Glas mit einem einzigen Zug.
8. KAPITEL
Barendorf, Februar 1945
Der Klang der Gefahr
Lautes Kettenrasseln aus der Ferne, und in meinem Kopf immer wieder die Legende vom Krampus, der in Österreich den Nikolaus begleitet: ein häßlicher, furchterregender Teufel, der mit lautem Kettenrasseln die »bösen« Kinder holt und bestraft, während Nikolaus die »braven« belohnt. Die beiden treten immer gemeinsam auf, und allein dieser Krampus hat mir das Nikolausfest immer verleidet. Nur klingt das Kettenrasseln, das ich hier in Barendorf in der Ferne höre, irgendwie noch viel intensiver als das
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