Der Mann mit dem Fagott
Geräusch, das der Krampus in Österreich mit seiner Kette macht. Es ist zwar weiter weg, aber es dauert oft ganz lang und muß gewaltig sein.
Ich weiß natürlich, daß da draußen in den Wäldern rund um Barendorf kein Krampus unterwegs ist, um uns »Böse« mit seinen Ketten zu holen und zu bestrafen, aber wenn ich wie jetzt nachts im Bett liege und das Geräusch höre, sehe ich trotzdem immer wieder die Krampusfratze vor mir, und unheimlich sind die Vorgänge im Wald allemal.
»Das sind die Panzerketten«, hat mein Vater mir erklärt, bevor er nach Kärnten zurückgefahren ist. Aber das zu wissen, hilft mir auch nicht wirklich weiter, und ich kann mich an dieses Geräusch einfach nicht gewöhnen.
Das Kettenrasseln ist vielleicht das unheimlichste der Geräusche »da draußen«. Vor allem nachts trägt es oft weit. Aber es ist natürlich nicht nur das Rasseln, das wir hören. Darunter liegt das tiefe Brummen von Motoren. Immer wieder hören wir auch Schießereien
und das Krachen von den Panzergeschützen. Und Kanonendonner. Auch dies ein ganz neues Geräusch, das tiefe, lang anhaltende Grollen. Der ewige Nachhall der Schüsse. Ein Echo, das wie ein unheimlicher Bote über den Wald zu uns zieht. Manchmal hat man das Gefühl, daß man das Geräusch förmlich sehen kann, so eindringlich und langsam und beharrlich nähert es sich und verklingt dann irgendwann, irgendwo. Und manchmal hören wir auch Trommelfeuer. Richtige Gefechte, ein Schuß nach dem anderen, wieder eine kleine Pause und neue Schüsse. Dazwischen das scharfe, helle Knattern von Maschinengewehren. Das geht manchmal stundenlang so, und dann liege ich wach in meinem Bett, und ich weiß, daß Joe auch wachliegt, aber wir sagen kein Wort, weil es sowieso nichts zu sagen gibt. Nur Manfred schläft seelenruhig weiter und läßt sich von alldem Lärm nicht stören.
Oft frage ich mich, wie weit die Gefechte noch weg sind, aber das kann man nicht genau feststellen. Manchmal sehen wir nachts ganz weit weg einen blitzenden Lichtschein vom Mündungsfeuer der Kanonen oder auch der Granateinschläge. Und viel, viel später hören wir erst den Schuß. Wenn wir die Sekunden zählen, können wir die Entfernung ungefähr ermessen - wie bei Gewittern.
Jedenfalls haben wir in der Zeit, seit wir hier sind, gemerkt, daß die Geräusche von Tag zu Tag ein bißchen lauter werden und die Abstände zwischen Blitz und Donner kürzer, die Gefechte kommen offenbar näher. Das kann ich trotz meines schmerzenden und immer noch fast tauben linken Ohres wahrnehmen. Sie müssen schon irgendwo in den Wäldern sein, irgendwo in der Lüneburger Heide. Ob die Granaten, die wir hören, plötzlich auch bei uns einschlagen werden?
Ich weiß, daß sich das alle hier fragen, aber niemand spricht darüber. Wenn mein Vater geahnt hätte, daß er uns hierher in ein Kampfgebiet bringt, wären wir sicher im vergleichsweise friedlichen Kärnten geblieben. Ich hab gehört, wie meine Mutter das zu jemandem gesagt hat, und ich glaube, sie hat recht.
Manchmal hören wir natürlich auch Bomben, die irgendwo niedergehen, Sirenen, und ein paarmal sind wir schon alle in den Keller geflüchtet, aber meistens machen wir gar nichts, wenn Luftalarm kommt, denn wer sollte schon ausgerechnet ein kleines Dorf, sieben Kilometer von Lüneburg entfernt, bombardieren? Trotzdem
machen mir all diese Gefechte in den Wäldern oft große Angst, und dann denke ich daran, welch großes Glück wir hatten, daß wir überhaupt heil nach Barendorf gekommen sind und daß wir den »Mann mit dem Fagott« aus Großvaters Haus in Berlin gerettet haben.
In der Nacht nach unserer Abreise gab es nämlich wieder einen großen Bombenangriff auf Berlin, und das Haus meines Großvaters ist dabei »dem Erdboden gleichgemacht« worden, wie mein Vater es genannt hat.
»Wären wir einen Tag später in Berlin gewesen, wären wir jetzt alle tot«, habe ich meine Mutter zu meinem Vater sagen gehört. Aber vielleicht ist der »Mann mit dem Fagott« ja sogar so was wie ein Schutzengel für uns. Schließlich hat er irgendwie auch schon meinen Großvater und seine Familie beschützt. Also kann er das ja jetzt auch für uns tun …
In Kärnten hab ich nur ab und zu die Bomber gesehen, die nach Klagenfurt flogen, ansonsten haben wir von Kämpfen und Krieg und alldem nicht soviel gemerkt. Hier oben aber wird fast Tag und Nacht geschossen. Alles kommt mir viel gefährlicher vor als zu Hause.
Wir leben hier auch mit viel mehr Menschen unter einem
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