Der Mann mit dem Fagott
Dach als in Kärnten: Natürlich wohnen Onkel Gert und seine Frau Maria hier, denen das Landgut Barendorf gehört. Und ihre drei Töchter, meine Cousinen. Dann noch die »schwarze Omi« Anna, die Mutter meines Vaters und seiner Brüder, die wir wegen ihrer langen schwarzen Haare so nennen. Und das Dienstmädchen Pascha, das die Familie seit der Zeit in Rußland nie mehr verlassen hat. Außerdem Tante Rita mit ihren Söhnen Mischa und Andrej. Tante Rita ist die Frau von meinem Onkel Werner, der irgendwo in Danzig stationiert ist. Und viele andere Familienmitglieder und Bekannte bitten immer wieder um ein paar Tage oder Wochen Gastfreundschaft. Kaum noch jemand hat eine eigene Wohnung, so scheint es in diesen Zeiten jedenfalls; vor allem, wenn man eigentlich in einer der Großstädte wohnt, und in Barendorf rücken alle eben immer enger zusammen.
Und dann die vielen, vielen Flüchtlinge, die vor allem aus dem Osten kommen. Sie haben alles, was sie besitzen, auf irgendwelche Leiterwagen geladen, die Fracht mit Planen und Teppichen abgedeckt
und sind seit Tagen und Wochen unterwegs. Die Bauern, die noch irgendwo ein Pferd, einen Esel oder auch eine Kuh hatten, haben dabei noch Glück. Sie können die Tiere die Lasten ziehen oder tragen lassen und die Kuh auch noch unterwegs melken und so den schlimmsten Hunger und Durst stillen. Wenn es gar nicht mehr anders geht, wird das Tier geschlachtet und gegessen. Aber die meisten sind zu Fuß unterwegs, ziehen einen Handwagen oder schleppen ihre Habseligkeiten. Es sind Unzählige, die jeden Tag bei uns anhalten - und noch viel mehr, die an uns vorbei weiterziehen. Scheinbar endlose Trecks aus Menschen, die irgendwo einen neuen Platz zum Leben und so etwas wie Sicherheit suchen, falls es das überhaupt noch irgendwo gibt. Fast alle haben Kinder dabei. Es sind abgemagerte Gestalten, die eine unvorstellbar lange Reise durch den Winter, zum Teil auch durch Kampfgebiete und andere Gefahren hinter sich haben. Auf dem Hof bekommen sie etwas zu trinken und wenn es geht auch ein bißchen Brot oder etwas anderes zu Essen und manchmal für eine Nacht in den Scheunen Unterschlupf, bevor sie weiterziehen. Wir kochen in riesigen Kesseln Suppe und verteilen sie, damit sie wenigstens etwas Warmes zu essen bekommen, und oft ist das die erste Mahlzeit, die sie seit Tagen bekommen haben.
Einmal hat ein ganz ausgemergelter Junge in meinem Alter zu mir gesagt: »Ihr habt’s gut, ihr habt wenigstens ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen! Das gibt es in ganz Deutschland schon fast nirgends mehr.« Da hab ich mir vorgestellt, daß in diesem ganzen großen Deutschland fast keine Häuser mehr stehen und die Leute nichts zu essen haben, und dann hab ich mich ganz schnell ans Klavier im Salon gesetzt und einfach irgendwas gespielt, was schön klang und was mich beruhigt hat. Ich mußte ja mein Akkordeon in Ottmanach lassen, und so versuche ich einfach das, was ich auf dem Akkordeon gespielt habe, irgendwie aufs Klavier zu übertragen, und es geht besser, als ich dachte. Nur daran, daß ich mit der linken Hand auch Tasten und nicht Knöpfe habe und die Akkorde daher ganz anders spielen muß, muß ich mich erst gewöhnen.
Abends hab ich dem Jungen, der mir von den zerbombten Häusern und vom Hunger erzählt hat, heimlich die Hälfte von meinem eigenen Essen gebracht, obwohl ich das eigentlich nicht darf, weil wir den Leuten zwar helfen, aber erst mal sehen müssen, daß wir
selbst bei Kräften bleiben. Aber der Junge hat mir so leid getan. Er hat es zuerst kaum glauben können, als ich ihm das Essen gebracht habe. Und dann hat er es ganz schnell in sich hineingeschlungen. Alle anderen in der Scheune haben ihn sehnsüchtig angestarrt, und da hab ich gemerkt, daß man nichts tun kann, daß es einfach zu viele Leute sind und bin ganz schnell wieder ins Haus gelaufen.
Ansonsten scheint die Zeit nur noch aus Warten zu bestehen: Warten auf Post, auf Telefonverbindungen, auf Luftangriffe, auf Entwarnung, auf Nachricht von meinem Vater, von Onkel Werner und Onkel Johnny, von dem wir seit August immer noch nichts gehört haben - und auf das Ende des Krieges.
Die »schwarze Omi« sagt zu alldem nicht viel, und über Opa wird in Barendorf auch nur ganz wenig gesprochen. Unsere »schwarze Omi« und Großvater haben sich schon vor Jahren scheiden lassen. Opa hat kurz danach eine andere Frau geheiratet. Sie heißt Grete und lebt mit ihm in Meran. Seither spricht die »schwarze Omi« nicht mehr gern über ihn,
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