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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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aber sie meint, er bleibt trotzdem unser Opa, und manchmal gehe im Leben eben nicht alles so, wie man es sich wünsche.
    Das beste hier in Barendorf ist eigentlich der weiche Heidesand. Meine Cousins und Cousinen, ein paar Freunde, Joe und ich verbringen fast jede freie Minute damit, in den Wäldern unterirdische Gänge und Bunker zu graben, die wir mit Stöcken abstützen. Gerade so groß, daß wir Kinder durchpassen. Die Eingänge liegen hinter Büschen verborgen, und nur wir Eingeweihten können sie finden. In diesen Bunkern hüten wir unsere Schätze: Wir haben den Erwachsenen ein paar Zigaretten geklaut, die wir hier verstecken. Manchmal rauchen wir hier, drehen uns selbst »Zigaretten« aus Blättern. »Das ist eine Papirosa«, hat Joe den anderen erklärt, weil er sich das Wort aus den alten Geschichten unserer Familie aus Rußland gemerkt hat, und alle haben dann damit angegeben, daß wir Papirossy rauchen.
    Einer unserer Freunde hat im Wald ein zerfleddertes Heft mit nackten Frauen gefunden, das er hier versteckt. Sicher hat es ein Soldat hier verloren oder weggeworfen, wie die meisten unserer »Schätze«. Nackte Frauen zu sehen, das ist schon irgendwie besonders aufregend. Die Frauen in dem Heft haben alle ganz große Busen und räkeln sich. So was haben wir alle noch nie gesehen. Die
Mädchen wollen das Heft auch immer wieder anschauen. Die kriegen dann ganz rote Flecken im Gesicht oder sie kichern wie verrückt. Manchmal wollen sie dann sogar mit den größeren Jungs herumschmusen und so was.
    Ein anderer aus unserer Gruppe versteckt ein kleines Messer. Joe hat ein paar Patronenhülsen und eine alte Gasmaske im Wald gefunden, und ich einen verbeulten Stahlhelm, den ich irgendwie unheimlich finde, von dem ich mich aber doch nicht trennen kann und ein altes, in der Mitte durchgeschlagenes Gewehr. Joe hat gesagt, daß die Soldaten, die flüchten oder die wissen, daß sie gefangengenommen werden, ihre Gewehre gegen Bäume schlagen, um sie kaputtzumachen. So ein Gewehr hab ich gefunden. Natürlich kann man damit nicht mehr schießen, aber ich spiele oft damit und frage mich, wem es wohl gehört hat.
    Manchmal versuche ich, mir die Welt nach dem Krieg irgendwie vorzustellen, aber es gelingt mir einfach nicht. Hoffentlich werden wir nicht alle erschossen oder ins Gefängnis gesteckt, weil wir doch wohl irgendwie die »Bösen« sind, und in Filmen und Büchern macht man das ja mit den Bösen. Aber ich weiß wirklich nicht, was wir Böses gemacht haben, und niemand will es mir erklären. Anscheinend weiß es auch von den Erwachsenen keiner genau.
    Und solange man das nicht weiß, schickt man uns in die Schule. Irgendwie ist schon an meinem ersten Schultag wieder alles schiefgelaufen. Ich wollte diesmal auf gar keinen Fall wieder etwas falsch machen. Die haben sicher auch hier in der Schule wieder einen Lehrer wie unseren Herrn Sauer, hab ich mir gedacht. Auf gar keinen Fall wollte ich wieder eine Ohrfeige bekommen oder Schlimmeres. Also hab ich mir alles ganz genau überlegt und mir gedacht, daß es bestimmt das beste ist, wenn ich ganz vorschriftsmäßig grüße mit ausgestrecktem rechtem Arm und laut »Heil Hitler« brülle.
    Und so hab ich das dann auch gemacht, aber komischerweise kam das überhaupt nicht an. Ich verstehe das zwar nicht so ganz, weil der Krieg ja noch nicht vorbei ist und niemand gesagt hat, daß man nicht »Heil Hitler!« rufen soll, aber irgendwie ist man hier von der ganzen Sache wohl nicht mehr besonders überzeugt, ganz anders als in Kärnten. Ein Mitschüler hat, nachdem ich »Heil Hitler!
« gerufen habe, sogar ganz laut in der Klasse gefragt: »Wo kommst du denn her? Vom Mond?« Und er hat mein »Heil Hitler!« nachgeäfft und eine ganz abfällige Handbewegung gemacht. Aber er hat dafür keine Ohrfeige vom Lehrer bekommen. Der hat nur gesagt, es sei wohl besser, wenn wir versuchen, Unterricht zu machen, so lange es noch irgendwie geht. Er war ganz ruhig und freundlich. Man hat nicht einmal mit mir geschimpft. In Kärnten wäre es absolut unmöglich gewesen, über Hitler so eine abfällige Handbewegung zu machen.
    Wenn ich nur wüßte, wo Papi ist und daß es ihm gutgeht. Aber jetzt muß ich wirklich endlich schlafen. Jetzt ist es auch gerade mal still.
    Ich lausche in die Dunkelheit, denke an Berlin und an Opa und meinen Vater und Onkel Johnny und an den Mann mit dem Fagott, mein Ohr tut weh und ich spüre, wie der Alptraum wieder näherkommt. Diesmal mit einem lauten Kettenrasseln

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