Der Mann mit dem Fagott
einen linientreuen Bürgermeister vor die Nase gesetzt zu bekommen, irgendeinen Fremden aus dem Reich, der überall herumschnüffeln und sich in alles einmischen würde. Das wollte man unbedingt vermeiden, also hatte man ihn, Rudi, gebeten, sich für das Bürgermeisteramt zur Verfügung zu stellen. Dazu mußte er aber in die Partei eintreten, was ihm widerstrebte.
Nicht, daß er den Wahnsinn dieser Leute, der sich allmählich immer deutlicher herausstellte, schon damals auch nur annähernd durchschaut hätte, aber sie waren ihm immer vulgär und irgendwie abstoßend erschienen, und es gefiel ihm ganz und gar nicht, daß er offiziell dazugehören sollte, nur um Bürgermeister zu werden.
Er hatte mit seinem Vater heftigst darüber gestritten. Heinrich war immer fürs Geradeausgehen gewesen. Er hatte ihn daran erinnert, wie er damals in Moskau nach der »Schwanensee«-Aufführung mit ihm, Rudi, und seinem älteren Bruder Erwin mitten durch den Brunnen des Restaurants gegangen war, um den beiden Söhnen eine Lehre darüber zu erteilen …
»Offenbar war diese Lehre nicht stark genug für dich«, hatte Heinrich gezürnt, als Rudi ihm seine Absicht gestand. Er hatte von einem Pakt mit dem Teufel gesprochen, von einem primitiven, gefährlichen Pack, mit dem niemand sich ungestraft einlassen könne und dergleichen mehr. Auch Käthe war dagegen gewesen, und sicher hatte Heinrich recht gehabt, und man hätte den geraden Weg gehen sollen. Doch Heinrich konnte auch einfach nach Meran gehen, die politische Situation weitgehend ignorieren. Aber Rudi hatte eine Verantwortung gegenüber dem Gut, der Familie und der Gemeinde zu erfüllen, da war der »gerade Weg« nicht einmal deutlich zu erkennen. Und vielleicht würde aus all dem Vulgären und Lauten, das ihn so abstieß, ja doch noch etwas Gutes erwachsen, so hatte er sich damals noch eingeredet, vielleicht war das nur eine Sprache, die dieses von der Niederlage des ersten großen Krieges gedemütigte Volk am ehesten verstand, ein Volk, das sich nach Stärke und Selbstbewußtsein sehnte, so hatte er gehofft - und kann seine eigene Naivität heute selbst kaum noch glauben.
All das steht ihm heute wieder klar und beklemmend vor Augen. Es hat ihn die ganze Rückreise von Barendorf hindurch begleitet und belastet.
Als er durch das zerstörte München marschierte, war er an jenem Kino vorbeigekommen, in dem er mit Käthe vor fast genau fünfzehn Jahren den ersten Film als Eheleute gesehen hatte: »Zwei Herzen im Dreivierteltakt«. Er kann sich noch gut daran erinnern. Aber das Kino stand nicht mehr, alles in Schutt und Asche.
Kurz vor dem Bahnhof war er auf einem engen Gehweg in eine Gruppe von ungefähr fünfzig Juden geraten, die von einem SS-Kommando ebenfalls zum Bahnhof geführt wurden. Für ein paar Meter ging man auf engstem Raum. Es waren Menschen mit verzweifelten, viele auch mit leeren Gesichtern, Männer, Frauen und Kinder, alle mit dem Judenstern am Mantel, und jeder einen kleinen Koffer in der Hand. Sie sahen ihn mit Blicken an, in denen er nicht lesen konnte, und er fragte sich, was man wohl mit diesen armen Menschen vorhatte. Daß man jetzt, so kurz vor dem Ende des Krieges noch Umsiedlungsaktionen durchführte? Rudi wunderte sich darüber, aber an noch Schlimmeres, wie die Schauergeschichten, von denen man manchmal munkeln hörte, wagte er gar nicht erst zu denken.
Als die Gruppe rechts abbog und Rudi Bockelmann geradeaus weiterging, rammte ihm ein SS-Mann einen Gewehrkolben in die Seite. »Hallo, hallo! Hiergeblieben, Freundchen! Einordnen! Wird’s bald!«
Rudi Bockelmann drehte sich erschrocken um. Noch nie zuvor hatte er das Gefühl erlebt, von einer Waffe bedroht zu werden. Er fühlte Ohnmacht, Angst. So bestimmt wie möglich nannte er seinen Namen und sein Reiseziel, zeigte seinen Ausweis und ein Dokument, das ihn als Bürgermeister der Gemeinde Ottmanach im Gau Kärnten auswies - und natürlich den Mitgliedsausweis der Partei. Nun war das verhaßte Ding ihm also doch noch zu etwas nutze. Der SS-Mann runzelte die Stirn und ließ ihn gehen.
»Heil Hitler!«
»Heil Hitler!« Rudi setzte seinen Weg fort. Jetzt erst begannen seine Knie zu zittern.
Am Bahnhof tatsächlich ein Zug, der bis nach Salzburg gehen sollte, aber kein Platz in irgendeinem der Abteile, also war er auf
die Puffer zwischen den Waggons geklettert und so stundenlang gefahren, bis der Zug irgendwo bei Wasserburg wieder anhielt, weil die Strecke beschädigt war: mitten in der Nacht, bei
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