Der Mann mit dem Fagott
Kälte und Regen ein mehrstündiger Fußmarsch bis nach Rosenheim, dann ging es durchnäßt und verdreckt mit einem anderen Zug weiter. Mit selbstgebranntem Schnaps, den er bei sich trug, konnte er sogar ein paar Landser im Gang bewegen, noch enger zusammenzurücken, damit auch für ihn noch Platz war.
Oft hatte Rudi auf dieser Reise an seinen Vater Heinrich gedacht, an die Flucht der Familie aus Rußland, damals, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Rudi Bockelmann kann sich gut an den Moment vor fast einunddreißig Jahren erinnern, als man seinen Vater Heinrich am Bahnsteig verhaftete, während der Zug sich in Bewegung setzte, der Rudis Mutter Anna, Rudi und seine Brüder in Sicherheit brachte, damals, als ihn alle noch »Rudjascha« nannten. Den Blick seines Vaters, als man ihn abführte, wird er wohl nie in seinem Leben vergessen.
Rudi war damals so alt gewesen wie sein Sohn Jürgen heute. Irgendwie kam es ihm auf dieser Fahrt, die er nun allein nach Ottmanach antrat, während Frau und Kinder in Barendorf blieben, so vor, als hätten sie die Rollen getauscht: Er war plötzlich in der beinahe gleichen Situation wie damals sein Vater, fuhr in ein ungewisses Schicksal. Und Jürgen durchlebte und durchlitt das, was er, Rudi, selbst als Kind im gleichen Alter hatte durchstehen müssen. Was war das bloß für ein Jahrhundert, in dem man da lebte? Das Jahrhundert der flüchtenden Menschen, des industriellen Krieges und des Todes.
Er lehnt seinen Kopf an die Scheibe. Kaum jemand benutzt wie er den Frühzug von Klagenfurt nach Willersdorf. Oder vielleicht sitzt er ja genaugenommen auch im Abendzug von gestern, der zehn Stunden Verspätung hat. Solche Dinge weiß heutzutage wohl niemand mehr.
Draußen ist es noch dunkel. Überall sind Berge von Neuschnee aufgetürmt. Der Fußmarsch nach Hause würde also beschwerlich werden. Aber das würde er auch noch schaffen.
Der Zug hält. Willersdorf. Rudi Bockelmann schreckt auf. Die paar Minuten Schlaf haben ihn nicht frischer gemacht. Er steigt aus dem letzten Waggon - ganz am Ende des kleinen Bahnhofs,
weit vom eigentlichen Bahnsteig und der winzigen Bahnhofshütte entfernt. Eine kleine Funzel beleuchtet das schon halb verrottete Schild »Willersdorf«. Rudi überlegt, vom Bahnhof aus zu Hause anzurufen und Karl Schindler zu bitten, ihn mit dem Traktor abzuholen, aber bis die Verbindung zustande kommen würde, dauerte es bestimmt eine Stunde oder länger, oder es klappte gar nicht. Dann würde er sehr viel Zeit verlieren. Außerdem sind am Bahnhof seltsamerweise einige Gestapo-Leute in ihren typischen dunkelbraunen Ledermänteln und tief in die Stirn gezogenen Hüten zu sehen, und Rudi hat keine Lust, ihnen zu begegnen. Sie können immer irgendwelchen Ärger machen. Also nimmt Rudi Bockelmann den kürzeren Weg am Bahnhofshäuschen vorbei, schultert seine Tasche und macht sich auf den beschwerlichen Weg durch den Schnee Richtung Ottmanach.
Unterwegs begegnet er dem einen oder anderen Bekannten, die sich allesamt ein wenig linkisch und ausweichend benehmen. Man begrüßt ihn fast überrascht, ein bißchen so, als hätte man nicht damit gerechnet, ihn hier noch einmal zu sehen.
Kilometerweit geht es über steile Feld- und Waldwege bergauf. Immer wieder muß Rudi Bockelmann innehalten, sich an einen Baum lehnen, durchatmen, bevor es weitergeht. Er hat nichts mehr zu trinken dabei und nimmt ein bißchen Schnee, um den schlimmsten Durst zu lindern. Dann geht es weiter. Seine Stiefel sind schon lange durchnäßt, seine Tasche wird ihm immer schwerer auf der Schulter.
Doch dann, endlich, hat er die Steigung überwunden. Der schmale Hohlweg führt aus dem Wald, und die Bauernhäuser von Treffelsdorf liegen wenige Hundert Meter vor ihm. Sein Blick schweift über das breite, herrliche Tal des Klagenfurter Beckens bis zur Karawankenkette. Gerade geht die Sonne auf und taucht die Landschaft, die ihm in den letzten fünfzehn Jahren, seit er hier in Kärnten lebt, zu seinem Zuhause geworden ist, in ein mildes, goldenes, friedliches, fast märchenhaftes Licht.
Rudi Bockelmann hält inne und nimmt diesen Anblick der Ruhe ganz in sich auf. Alle außer seiner Frau Käthe hatten ihm davon abgeraten zurückzukehren. Man hatte ihm das Schlimmste prophezeit. Er würde hier, wenn die Russen kamen, wie in einer Mausefalle festsitzen, sein Leben wäre in Gefahr und dergleichen Dinge
mehr, die man natürlich nicht abtun konnte. Doch nun steht er hier, blickt über das winterliche Tal, die Felder,
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