Der Mann mit dem Fagott
warten, bis er etwas gefragt wird?
Schon fährt Kommissar Brettschneider fort: »Das Volk hört und sieht alles! Das Volk ist unsere größte und wichtigste Waffe. Und das Volk weiß auch, wie man mit Verrätern wie Ihnen umzugehen hat. Das Volk von Ottmanach hat das Urteil über Sie gesprochen, und unsere Aufgabe ist nun eigentlich nur noch, es zu vollstrecken. Das Volk irrt nie!« Brettschneider blättert in irgendwelchen Papieren, und Rudi unterdrückt ein fassungsloses Kopfschütteln über diese Aussage aus dem Mund eines Mannes, der einem System dient, dem das Wohl des Volkes weniger als ein Fliegendreck wert ist.
»Alle Kleider Ihrer Frau und Ihrer Söhne sind aus den Schränken verschwunden, schreibt uns eine Bedienstete von Ihnen«, fährt Kommissar Brettschneider fort. »Und da haben Sie die Frechheit, uns zu erzählen, Sie hätten nur Ihre Familie besuchen wollen? Finden Sie das nicht selber lächerlich?«
Offenbar hat der Kommissar Eingaben aus der Bevölkerung vor sich. Der Neid oder die Lust, Gerüchte zu streuen, war anscheinend größer als er es je für möglich gehalten hatte.
»Es sind nicht alle Kleider meiner Frau und meiner Söhne verschwunden!
« erwidert er schließlich mit fester Stimme. »Das ist eine bösartige Verleumdung, und wenn es gewünscht wird, kann ich jederzeit den Gegenbeweis antreten … Aber natürlich haben wir einiges mitgenommen. Wir wußten ja nicht, wie lange wir unterwegs sein würden. Sie wissen ja selbst, wie die Verhältnisse sind!«
»Und bei diesen ungewissen Verhältnissen lassen Sie Ihr Volk im Stich und machen eine Vergnügungsreise?«
Rudi hält es für besser, nichts darauf zu erwidern. Brettschneider blättert weiter in seinen Papieren. »Und dann sollen Sie sich ja auch noch bestens mit den Ostarbeitern verstehen. Sie sprechen Russisch?«
Rudi nickt. »Ja, wie Sie wissen, bin ich in Moskau geboren.«
»Sieh einer an. Man versteht sich offenbar darauf, die Seiten zu wechseln. Bei den Kommunistenschweinen geboren, bei uns Parteimitglied, aber sich mit den Ostarbeitern verbrüdern.« Brettschneider sieht Rudi triumphierend an. Rudi versucht zu erklären, daß er keineswegs unter den Kommunisten geboren worden sei, aber der Kommissar fällt ihm sofort ins Wort: »Sie sprechen hier nur, wenn Sie etwas gefragt werden!«
Brettschneider blättert weiter in seinen Papieren. Offensichtlich Rudis Akte.
Bevor er seine nächste Frage stellen kann, geht die Tür auf, und der oberste Gestapo-Chef, Obersturmbannführer Berger, tritt ein. Rudi kennt ihn flüchtig. Kommissar Brettschneider springt sofort auf, grüßt militärisch und erstattet Meldung.
»So, so, der Herr Bürgermeister! Desertiert, wie?« beginnt Obersturmbannführer Berger gleich zu schreien. »Na, das Problem werden wir ja schnell lösen! Der Fall liegt ja wohl eindeutig! Sehen Sie - wir kriegen sie alle!« Den letzten Satz hat er fast ruhig gesagt, mit einer deutlich spürbaren Genugtuung, und Rudi begreift zum ersten Mal ganz, in welch einer katastrophalen und lebensbedrohlichen Lage er sich befindet. Er begreift es zuerst körperlich, spürt zum ersten Mal eine Welle der Panik und Verzweiflung in sich aufsteigen. Er weiß, er muß ruhig bleiben, jedenfalls ruhig wirken . Jede Regung wird den Gegnern als Eingeständnis eines schlechten Gewissens erscheinen, es wird wohl klüger sein zu schweigen.
Der Obersturmbannführer bittet Kommissar Brettschneider
kurz vor die Tür. Das gibt Rudi Gelegenheit, sich wieder ein bißchen zu beruhigen. Wie geht man mit der Erkenntnis um, sich in Lebensgefahr zu befinden?
Als Brettschneider wieder eintritt, trägt er eine neue Mappe mit sich. Er knipst seine derbe Schreibtischlampe an, richtet den Lichtstrahl auf Rudis Gesicht, ist nur noch schemenhaft zu sehen. Rudi hat so etwas bisher nur in Kriminalromanen gelesen. Daß man das wirklich so macht, wundert ihn, genauso wie die einschüchternde Wirkung, die es sofort auf ihn hat.
»Wir haben in Ihrem Haus ein sehr merkwürdiges Bild gefunden. Können Sie uns das erklären?«
»Welches Bild meinen Sie?« Rudi ist der Sinn der Frage zunächst wirklich nicht ganz klar.
»Als ob Sie das nicht wüßten, Herr Bürgermeister! Stellen Sie sich doch nicht dümmer als Sie sind. Das Bild heißt ›Der Jude‹, wie Sie einem Beamten seinerzeit selbst freundlich erklärt haben.« Er nimmt ein aus dem Rahmen gelöstes Bild aus der Mappe und zeigt es Rudi. Es ist das Bild aus dem alten Arbeitszimmer seines Vaters, das ihm
Weitere Kostenlose Bücher