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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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das Schicksal zumindest mit einem Freund teilen.
    »Thiede, Gans.« Es sind inzwischen wohl an die hundert Gefangene vorgetreten.
    Der Offizier, der die Prozedur mit den Namen vorgenommen hat, stellt sich in Positur, stemmt selbstgefällig beide Arme in die Seite. »Die Aufgerufenen werden in wenigen Tagen nach Hause entlassen. Abtreten!«
    Fassungslosigkeit in den Gesichtern der Vorgetretenen, Verzweiflung bei den anderen. Johann Bockelmann versucht, die Bedeutung der soeben gehörten knappen Nachricht zu begreifen: Entlassen? Nach Hause? Kann das wirklich wahr sein? So viele Jahre hat er auf diese Worte gewartet, und jetzt brauchen sie Minuten, um ganz in sein Bewußtsein zu dringen. Thiedegans begreift es am schnellsten. Er fällt ihm um den Hals, Sterzig schließt sich an, sie liegen sich in den Armen. Die Kälte, die Müdigkeit, die Verzweiflung fällt langsam von ihnen ab.
    »Wir müssen in die Baracke! Wir müssen es Klausen sagen, der ist ja auch entlassen!«
    Sie stürmen los, schweben wie auf Wolken.
    »Klausen! Wir sind frei! Du auch!« bestürmen sie ihn mit der Neuigkeit.
    Keine Antwort.
    »Klausen! Wir dürfen nach Hause! Du kommst heim! Schon in ein paar Tagen!« Adolf Sterzig rüttelt sanft an seiner Schulter.
    »Nein! - Nein! - Bitte nicht! - Das gibt’s einfach nicht!« Er rüttelt und rüttelt, keine Antwort.

    Adolf Sterzig verfällt in beinahe hysterisches Schluchzen. »Da käme der Kerl frei, und er erlebt es nicht mehr! Der ist tot! Das darf doch einfach nicht sein! Mensch, tut doch was! Er kann doch nicht ein paar Tage vor seiner Entlassung sterben!«
    Thiedegans sammelt sich als erster. »Es ist zu spät. Wir können nichts mehr tun«, sagt er leise. Die Emotionen liegen blank wie nie. Entsetzen und unbändige Erleichterung über die eigene Freilassung gehen Hand in Hand. Jahrelang mit aller Kraft bewahrte Fassung löst sich in Tränen, Zittern, Ungläubigkeit auf.
    Nach einer kurzen Pause zieht Thiedegans ihm wie selbstverständlich die Schuhe aus. Er wendet sich an Johann Bockelmann: »Du läufst schon die längste Zeit in deinen blöden Autoreifen rum, Johnny. Meine Treter halten sicher noch bis nach Hause.« Er hält ihm Klausens Schuhe hin. In diesen Schuhen - oder dem, was davon übrig ist - sind schon zwei unserer Freunde gestorben: Mittergratnegger und Klausen. Aber dich werden sie in die Heimat tragen!
    »Nach Hause entlassen.« Keiner von ihnen kann es wirklich begreifen. Lars Baumann hat, woher auch immer, eine Kerze organisiert, sie in ein kleines Stück Brot gesteckt.
    »Es ist Weihnachten … Ihr werdet mir fehlen«, ist das einzige, was er herausbringt. Schweigend sitzen sie um das Licht herum, wärmen abwechselnd ihre Hände daran. Es ist ein stummer Weihnachtsabend, beglückend und beklemmend im gleichen Augenblick. In welches Schicksal werden sie gehen? Was wird sie zu Hause erwarten? Wird es so etwas wie ein Zuhause überhaupt noch geben? Und was wird aus Lars Baumann werden? Keiner spricht es aus. Es wäre zu kompliziert.
    »Nach Hause«, pocht es in Johann Bockelmanns Kopf, und langsam beginnen die beiden Worte, ihre Wärme und ihren Frieden in ihm zu verbreiten.

21. KAPITEL
    Auffanglager Friedland und Barendorf bei Lüneburg, Dezember 1949 bis März 1950

Baumanns Geheimnis
    Berlin in der frühen Abenddämmerung. Johann Bockelmann und die anderen drücken sich so nah wie möglich an die Scheiben des verplombten Waggons, dessen Fenster sich nicht öffnen lassen.
    »Mensch, das ist Berlin! Berlin, ich glaub das einfach nicht!«
    »Wir sind wirklich in B-E-R-L-I-N!« Es erscheint Johann Bockelmann wie ein irrealer, wunderschöner Traum, aus dem er am liebsten gar nicht mehr erwachen würde. Manchmal hatte er während seiner Gefangenschaft solche Träume: von Deutschland, von Freiheit, von einem warmen, weichen Bett, von Tischen, die sich vor köstlichen Speisen biegen, vom Schlaraffenland, und er hatte sich dann immer solange es irgendwie ging, dagegen gewehrt aufzuwachen. Daß es nun Wirklichkeit sein soll, der normale Waggon mit richtigen Sitzen, der Bahnhof von Berlin, an dem der Zug auf dem Weg zum Auffanglager Friedland Station macht, begreift Johann Bockelmann noch nicht und fürchtet das Erwachen. Aber daß es kein Traum ist, kein Traum sein kann , erlebt er an den Ruinen, an denen er seit Stunden und Tagen vorbeifährt, dem ungeahnten Grad an Zerstörung. In seinen Träumen war es ein heiles Deutschland gewesen, in dem er sich wiederfand, das Deutschland seiner

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