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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sibylle Berg
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in meine Wohnung zu laufen. Dort schaute es sich kurz um und nahm dann auf meinem Sofa Platz. Ich machte das Abendessen und stellte einen Teller vor das Tier. Es begann mit seinen kleinen Händen von den Bohnen zu nehmen, ein wenig Kartoffel, dann wischte es sich den Mund ab und ging in mein Bett, um sich schlafen zu legen. Von jenem Tag an lebte das Tier mit mir. Ich gewöhnte mich außerordentlich schnell an seine Gesellschaft, vermutlich, weil es keine Fragen stellte. Wir lebten einige Jahre zusammen, schliefen zusammen in meinem Bett, ich würde sagen, wir erfreuten uns an unserer Gesellschaft. Dann war Frühling, und ich ließ die Fenster offen, wegen der Luft, wegen der Vögel, und mein Tiersaß auf dem Fensterbrett, und fast sorgte ich mich, dass es stürzen könnte. An einem Abend kam ich heim und sah das Tier am Fenster, es blickte mich an, ein wenig schuldbewusst, wie mir heute scheinen will. Es nickte mit dem Kopf und sprang aus dem Fenster. Ich habe es aufgelesen, und es steht jetzt hier und ist nur mehr eine Hülle. Ich weiß, dass die Mitteilung an mich eine andere war. Es geht um diesen Moment des Sichabstoßens in die Wolken, in das Blau, ich vermeine genau zu wissen, was mein Tier gesucht hat. Die endlose Ruhe. Es wird der stillste Moment meines Lebens, durch die Luft zu fliegen, nicht einmal Rauschen werde ich hören, und fliegen, endlich fliegen, und wissen, dass ich nie wieder Geräusche hören muss, nie wieder Stimmen. Das wollte ich noch irgendwem sagen. Vielleicht als einen Abschied. Es kommen neue Ebenen, und man muss sich nicht fürchten vor ihnen.«
    Die Dame schloss die Augen, und ich ging in meine Wohnung. Ich schickte dem Mann eine Nachricht, dass ich am nächsten Tag zu ihm fahren würde. Als ich am Morgen das Haus verließ, um zum Zug zu gehen, sah ich kein Licht in der Wohnung der alten Dame.

Heute.
Gegen vier. Am Morgen.
    Da wird kein Schlaf mehr kommen, in dieser Nacht, die Morgen wird, die Sonne wirft bereits rosa Flecken ins Dunkel, auf der Gasse ein paar Menschen, vermutlich Fischer, die mit Giftstoffen beladene Tiere fangen gehen, Oktopoden, die, wie man jüngst herausfand, sehr gerne spielen und sich kraulen lassen. Ich ziehe mich an und schaue flüchtig in den Spiegel. Ich erkenne nichts von dem, was ich da sehe.
    Verdammte Jugend, die man verehrt in Kreisen, zu denen ich nicht gehören möchte, ist es doch die albernste Zeit im Leben eines Menschen, das ohnehin vor Albernheit jede Sekunde zu implodieren droht. Das Jungsein ist niedlich, aber zum Zuhören ist das nicht, die jungen Mädchen, die kichernd über die Insel laufen, an jedem Wochenende, die Jungs, die sich gegenseitig anstoßen und nicht wissen, warum. Ich ziehe nur einen Mantel über meinen Schlafanzug, um eine Nachtwanderung zu machen. Vielleicht werde ich müde dabei. Oder treffe einen Selbstmörder.
    Den Weg kenne ich auch bei Dunkelheit, auch mit geschlossenen Augen, auch mit abgetrenntem Kopf.
    Jetzt zum Meer zu gehen wird die Routine des Tages durcheinanderbringen, das Meer ist erst am Vormittag eingeplant, der Plattenweg, der Himmel, der inzwischen seltsam dunkel-kupferfarben ist. Ich sitze auf meiner Bank, die befremdlich wirkt, im Dämmerlicht, ihrer Harmlosigkeit beraubt, bedrohlich, als könne sie mich verschlingen. Ich sitze und wagenicht, mich zu bewegen. Nicht aus der Angst heraus, verschlungen zu werden, sondern weil es unsinnig wäre, so wie es unsinnig ist, hier zu sitzen und zu hoffen, dass es in meinem Leben noch einmal ein Ereignis geben könnte, das mich die Unsinnigkeit vergessen lässt. Wie sie plärren in Chören, die Bürger, von der Schönheit des Lebens, ein Geschenk von Gott, ein Männermärchen, das sie bis heute in den Schulen in Kinderhirne schütten, um die Schafe auf den Weiden zählen zu können. Sie kriechen durch ihr Dasein, klammern sich an Moral und Gesetze, an Pianokonzerte und die Philosophen, die auch nichts zu erklären vermochten, wie auch, mit einem Menschenhirn. Sie rennen Marathon und schreien: »Ich habe den Krebs besiegt«, um dann am Herzschlag zu verrecken. Es gibt zwei Sorten von Dummheit: die derjenigen, die das Schild »Betreten verboten« befolgen, und die der anderen, die es extra nicht tun. Ich gehöre zu den Letztereren, auch albern in ihrem Trotz, die Freaks, die Rocker, die Kiffer, aber die kenne ich, verstehe ich, die anderen werden mir immer ein Rätsel bleiben.
    Ein Geräusch holt mich aus der filigranen Schleife, die meine Gedanken gerade drehen, ein

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