Der Mann schlaeft
Geräusch wie ein Winseln, schwer auszumachen, im Dämmerlicht, neben der Bank, ein Bündel, das zuckt, ich stehe auf und erkenne, dass es ein Kind ist, was da liegt. Ein kleines Mädchen, vielleicht zehn Jahre, es ist schwer für mich, das Alter von Asiaten zu schätzen. Sie sehen lange Zeit aus wie Kinder, bis sie scheinbar innerhalb von Stunden verschrumpeln, wie freundliche Pflaumen.
Ich berühre das Kind nicht, das da weinend in sich zusammengerollt neben der Bank schnauft, denn ich weiß, wie sich Berührungen anfühlen, um die man nicht gebeten hat.Das Mädchen bemerkt meine Anwesenheit, sie ist ihr unangenehm, ich spreche sie nicht an, doch ein Trotz in mir lässt mich bleiben. Es ist meine Bank, mein Strand und mein Vorrecht, unglücklich zu sein. Neben dem Mädchen kauernd warte ich, ob sie sich irgendwann in einen anderen Zustand begeben möchte. Lange beobachte ich das Meer, ignoriere meine schmerzenden Knie, weil ich eine Bewegung scheue, und wirklich fasst das Mädchentier irgendwann Zutrauen und redet, in erstaunlich gutem Englisch, doch der überdurchschnittliche Verstand asiatischer Kinder erstaunt vermutlich nur mich als Europäer.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie in diese peinliche Situation bringe.« Alle Wetter! denke ich, das ist Stil. Ich will dem Kind nicht zur Antwort geben, dass mir nichts mehr peinlich ist, weil das Gefühl dazu meint, dass man sich für die Menschen um einen interessiert. Das Mädchen redet, nachdem ihr Schluchzen sich beruhig hat, weiter.
»Sie müssen sich nicht um mich kümmern. Am liebsten wäre mir, Sie würden mich nicht weiter beachten.« Sie blickt mich aus ihren scheinbar lidlosen Augen an, die mir nichts mitteilen. Es sind nur mehr mir unvertraute Augenschlitze. Ich weiß nicht, was zu tun ist. Es widerstrebt mir, ein weinendes Mädchen vor Aufgang der Sonne am Strand zurückzulassen. Doch – wer bin ich, dass ich ihr helfen könnte? Ratlos versuche ich mich auf meine üblichen Schmerzen zu konzentrieren, aber es will mir nicht gelingen. Das Mädchen ist bemüht, sein Weinen zu unterdrücken, aus Rücksichtnahme auf mich. Da ich weiß, dass nichts unangenehmer ist, als anderen seinen Willen aufzudrängen, stehe ich auf und will gehen.
»Bleiben Sie«, höre ich die leise Stimme des Mädchens.»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bleiben Sie noch ein bisschen. Ich möchte eigentlich doch nicht alleine sein.« Ich setze mich wieder hin und warte, dass sie weiterspricht. Es braucht eine Viertelstunde oder länger, die Sonne geht auf, die Insel wird gleich erwachen, bis das Mädchen sich neben mich setzt, aufs Meer sieht und zu reden beginnt.
Damals.
Vor vier Jahren.
Wenn ich mich in Zügen befand, in stockendem Verkehr, wenn es mir vergönnt war, auf verspätete Flugzeuge zu warten oder an Postschaltern, musste ich an mich halten, damit ich wegen des großen Wohlgefühls nicht zu grunzen begann. Es waren jene wunderbaren Momente, in denen ich und die Umgebung deckungsgleich waren: eine große leere Blase, die mich bis an die Grenzen der Flugfähigkeit beglückte.
Von einem gut funktionierenden Mitglied der großen Völkerfamilie wird gemeinhin erwartet, dass es produktiv ist, sich geschmeidig und zielstrebig bewegt, seinen Leib sportlich ertüchtigt, keine Kosten verursacht, sein Soll erfüllt. Sie waren gut erzogen, die folgsamen Bürger, überwachten einander, um die Ausgaben des Gesundheitswesens gering zu halten. Sport als Opium fürs Volk hatte sich überall in der westlichen Welt durchgesetzt, in Kombination mit Kokain entstand so eine Art Maschinenmensch, der den Kapitalismus zu immer perfekterer Perversion trieb.
Etwas wie ich, wie aus einem Rokoko-Gemälde übernommen, passte nicht in die vorherrschende Geschwindigkeit. Doch vermutlich hat alles immer dasselbe Tempo, nur man selbst wird im Alter langsamer.
Vor dem Zugfenster hielt sich die Schweizer Kulisse auf. Dieses verstörend unreale Land, das in mir jenes Gefühl erzeugte, welches man nach dem Erwachen an einem späten Sommermorgen in einer Wohnung hat, in der die Holzjalousiengekippt sind und Streifen gelben Lichts auf frisch gewachstes Parkett treffen.
Mir gegenüber saß ein Mann, der einen Hut trug und aus einer Thermoskanne Wasser trank. Vielleicht hatte ich ihn einen Moment zu lange angestarrt, da war etwas Verwaschenes in seinem Gesicht, das mich verstörte, der Herr beugte sich plötzlich zu mir, in einem Abstand, der so gering war, dass er mir zwangsläufig als Eindringen in meine
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