Der Maskensammler - Roman
zukam. Der Boden vibrierte. Noch benommen, hob sie den Kopf, roch das verbrannte Dieselöl und sah, wie kurz vor ihr einer seiner Reifen einen Rucksack zerquetschte.
In dem Moment wurde sie am Arm gepackt und hochgezogen. Sie taumelte, versuchte, ihr Gleichgewicht zu finden, schwer hingen ihre Kleider an ihr. Auf dem Platz herrschte Panik, alle versuchten zu fliehen, drängten sich vor dem Haupteingang, aber man hatte die Türen von innen verriegelt. Die Polizisten rückten mit gezückten Schlagstöcken vor, um die Studenten einzukreisen. «Komm! Sie bilden einen Kessel!» Gerd zog Ursula hinter sich her. Sie liefen auf einen der Uniformierten zu, der versperrte ihnen den Weg, streckte ihnen wie eine Lanze seinen Stock entgegen. Gerd rempelte an ihm vorbei, der Arm mit dem Stock schnellte in die Höhe, aber als er zuschlug, waren Gerd und Ursula schon außer Reichweite.
Sie rannten und rannten, die Hände ineinander verkrallt. Keuchend blieben sie endlich an einer Ecke stehen. Niemand verfolgte sie, langsam lösten sich ihre Hände. «Hier lang!» Gerd versuchte zulächeln. «Wir sind beide völlig verdreckt.» Passanten starrten sie an und schüttelten den Kopf. Sie liefen durch einen Park, der ihr bekannt vorkam, erreichten eine ruhige Nebenstraße, dann verschwanden sie in einem Hausflur, stiegen hoch in den ersten Stock. Ursula hörte, wie hinter ihr die Wohnungstür ins Schloss fiel. Geschafft! Sie schloss die Augen.
11. Kapitel
Noch bevor sie ganz aufwachte, ging ihr eine Melodie durch den Kopf. Ihre Mutter hatte das Lied gesungen, meistens nur die erste Strophe:
«Und der Haifisch, der hat Zähne
Und die trägt er im Gesicht
Und Macheath, der hat ein Messer
Doch das Messer sieht man nicht.»
Wenn sie guter Laune war, sang die Mutter weiter:
«Und die minderjährige Witwe
Deren Namen jeder weiß
Wachte auf und war geschändet –
Mackie, welches war dein Preis?»
Sie lag unter einer Decke, ihr Kleid und die Strümpfe hingen über einem Stuhl. Ein säuerlicher, ihr unbekannter Geruch kitzelte sie in der Nase, sie fuhr mit der Zungenspitze über die Lippen: Der salzige Geschmack war verschwunden. Entfernt hörte sie Stimmengewirr, sie war also nicht allein. Mit der Hand fuhr sie über die schmerzhafte Stelle auf ihrer Brust und versuchte den Punkt zu finden, der erklärte, was sich ereignet hatte. Was ihr passiert war. Wie sie da reingeraten konnte. Ihre Mutter, ja, ihre Mutter hätte das verstanden.
«… Und ein Mensch geht um die Ecke
Den man Mackie Messer nennt.»
Vorsichtig, ohne tief zu atmen, erhob sie sich und ging zum nachthellen Fenster, um frische Luft reinzulassen. Jetzt konnte sie die Stimmen deutlicher unterscheiden. Eine Frau lachte: «Ha, ha!» So wie vorhin, als sie mit Gerd in die Wohnung gekommen war. Zwei junge Frauen hatten in der Küche gesessen, damit beschäftigt, einen Berg Kartoffeln zu schälen. «War wohl ein voller Erfolg!», hatte die eine gerufen. «Ha, ha!» Ursula war den Flur entlang, hinter Gerd her in eines der hinteren Zimmer gelaufen. «Zieh die nassen Klamotten aus und schlaf ’ne Runde», hatte er gesagt. Dann hatte er sie allein gelassen.
***
«Na, Genossin, genug gepennt?» Die Frau hatte hennarote Haare und trug eine Bluse mit eingenähten Spiegelchen. «Willkommen in unserer Wohngemeinschaft! Da du gerade stehst, könntest du eigentlich den Abwasch machen. Guck mal: Die dreckigen Teller stapeln sich seit drei Tagen. Ist doch eine Sauerei.» Ursula stand unschlüssig. Da kam Gerd zu ihr: «Du spülst. Ich trockne ab.»
Während sie arbeiteten, schellte es mehrmals: dreimal kurz, zweimal lang: wie Ho-Ho-Ho Chi Minh. Es kamen zwei junge Männer und Rosa. Sie sahen mitgenommen aus und waren hungrig. «Saubere Teller, hier bricht der Luxus aus.» – «Wir sollten eine Vietcong-Fahne aufhängen, die leeren Wände machen depressiv», sagte einer. «Damit die Bullen bei einer Hausdurchsuchung gleich wissen, dass sie an der richtigen Adresse sind», antwortete Gerd und hängte das Küchentuch an einen Haken. «Es gibt wichtigere Dinge. K. D. Wolff hat dazu aufgerufen, vom bloßen Protest gegen den Völkermord und den imperialistischen Krieg zum Widerstandüberzugehen. Ich würde gern wissen, was ihr davon haltet, Genossen.» – «Hör auf mit ‹Genossen›!», sagte eine der Frauen. «Wir sind hier in einer WG und nicht auf einer eurer politischen Versammlungen.» – «Ach, die in Berlin!», sagte einer, es war Kalle. «Wollen den Amis einen so großen
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