Der Medicus von Heidelberg
Seite des Gläubigen. Wenn das richtig war, musste hinter dieser Mauer ein gewaltiger Dünkel herrschen.
Nachdem wir die Kirchgasse durchschritten hatten und anschließend links in die Augustinerstraße eingebogen waren, standen wir wenig später wieder am Einlasstor unserer Burse. Erleichtert stellte ich fest, dass Engelhuss verschwunden war und ich unbehelligt auf meine Kammer gehen konnte. Die frische Luft hatte mir gutgetan. Mein Kopf war wieder frei, ich freute mich auf Trotulas Lektüre.
Doch ihr Werk lag nicht auf meinem Tisch.
Im ersten Augenblick traute ich meinen Augen nicht. Ich war mir ganz sicher, dass ich das Buch aufgeschlagen zurückgelassen hatte. Ich wusste sogar noch die Seite, die ich zuletzt gelesen hatte. Es war die Seite zweihundertsechsundneunzig.
Wo war das Buch?
Ich suchte es überall und wusste doch, dass ich es nicht finden würde. Jemand musste es entwendet haben. Doch wer kam dafür in Frage? Außer mir gab es in der Georgenburse keinen Medizinstudenten.
Und wenn der Dieb gar kein Medizinstudent war? Ein schlimmer Verdacht keimte in mir auf.
Nein, so niederträchtig konnte Engelhuss nicht sein.
Nochmals durchsuchte ich meine Kammer von oben bis unten, doch es blieb dabei. Das Werk
Trotula major
war fort.
Was konnte ich tun? Zu Engelhuss laufen und ihm die Tat auf den Kopf zusagen? Selbst wenn er schuldig war, würde er sie abstreiten. Ich konnte mir sein Gesicht gut vorstellen, voller verborgener Häme, wie er mir sein höchstes Bedauern über den Verlust ausdrückte. Nein, ich musste kühlen Kopf bewahren. Morgen in der Frühe würde ich ohnehin erst eine Vorlesung von Professor de Berka hören müssen. So Gott wollte, würde sich das Buch danach wieder angefunden haben. Und wenn nicht? Es hatte einen unschätzbaren Wert. Ich würde es niemals ersetzen können.
Ich streichelte Schnapp, auf den meine Unruhe übergegangen war, und sagte: »Nur keine Sorge, mein Großer, alles wird gut.« Aber Glauben schenkte ich meinen Worten nicht.
Die Nacht, die sich anschloss, war voller Unruhe. Gegen Morgen, als ich noch immer keinen Schlaf gefunden hatte, legte ich mich auf den Boden neben meinen Hund. Ich suchte Trost in seiner Wärme und in seinem vertrauten Geruch.
»Schnapp«, flüsterte ich verzweifelt, »wenn unsere Prinzessin hier sein könnte, wäre alles viel leichter.«
Nach der Abendmahlzeit am Samstag nahm Professor Gansdorff mich beiseite. »Auf ein Wort, Nufer«, sagte er. »Bitte folgt mir.«
Er führte mich in den Raum neben dem Remter, wo die Lateinnachhilfe stattfand, und wies mir einen Platz auf den Schülerbänken zu. Er selbst setzte sich eine Reihe weiter, so dass wir auf gleicher Höhe miteinander sprechen konnten. Ich war ihm dankbar dafür. Er zeigte mir durch diese Geste, dass er mich nicht als Studenten der Medizin, sondern in meiner Eigenschaft als Magister Artium sprechen wollte.
»Nufer«, hob er an, »die Burse summt wie ein Bienenstock. Zwei Dinge gibt es, die mir unter den Nägeln brennen, und ich hoffe, dass Ihr nach diesem Gespräch noch meiner Sympathie wert seid.«
»Das hoffe ich auch, Herr Professor. Ich habe mir, soviel ich weiß, nichts Arges zuschulden kommen lassen.«
»Warten wir’s ab. In beiden Fällen geht es um den Magister Engelhuss, einen Kollegen von Euch. Überlegt Euch also genau, was Ihr auf meine Fragen antwortet. Die erste lautet: Stimmt es, was Engelhuss mir versichert hat? Er behauptet, dass gestern Abend ein Gelage im Raum des Baccalarius Faustus Jungius stattfand und dass Ihr, ein Ranghöherer, der Vorbild sein sollte, an dieser Zecherei teilgenommen habt.«
»Das stimmt, Herr Professor.«
»Aha, Ihr gebt es also zu. Einfach so?«
»Faustus Jungius hatte Geburtstag, Herr Professor. Das war der Anlass.«
»Ihr leugnet mithin nicht, dass es zu einem, äh, Besäufnis kam?«
»Es ging feucht und fröhlich zu. Ich möchte aber betonen, dass ich keineswegs betrunken war. Im Übrigen bin ich auch früher gegangen.«
»Statt früher zu gehen, hättet Ihr diese Entgleisung von Anfang an verhindern müssen! Als wäre es nicht schon ärgerlich genug, dass meine Burse immer wieder als ›Biertasche‹ bezeichnet wird. Damit wir uns recht verstehen: Ich habe nichts gegen einen gefüllten Becher in der Kammer, solange es bei einem bleibt. Wir waren alle mal jung. Aber was zu viel ist, ist zu viel!« Gansdorff trommelte ärgerlich mit den Fingern auf der Bank.
Ich wollte antworten, dass Engelhuss das Gelage genauso hätte
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