Der Medicus von Heidelberg
eine Lage aus gepechtem Leinen zum Vorschein, gefolgt von einer letzten Umhüllung aus Ziegenleder. Was mochte sich darunter verbergen? Der Anblick war enttäuschend. Es handelte sich um eine apfelgroße Frucht von rötlich gelber Farbe mit runzliger Oberfläche. Ich nahm die Frucht in die Hand und roch daran. Vergebens, kein Duft war zu erspüren, die Schale schien zu ausgetrocknet. Um was für eine Art Frucht handelte es sich eigentlich? Richtig, der Farbe und der Form nach musste es eine Pomeranze sein.
Wer, um Himmels willen, schickte mir eine Pomeranze?
Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Odilie! Meine Prinzessin! Ein heißes Glücksgefühl durchströmte mich. Ich erinnerte mich, dass sie mir einmal erzählt hatte, der liebste Ort im Schloss sei ihr der Pomeranzenwald. Ja, die Frucht musste von ihr sein. Dafür sprach auch die Kordel, deren Gold und Rot im kurpfälzischen Wappen auftauchten. Nur, was wollte sie mir mit der Frucht sagen? Was hatte es überhaupt mit ihr auf sich? Ich wusste, dass sie in Frankreich auch
pomme d’orange
genannt wurde und für manchen medizinischen Zweck in Frage kam. Die getrockneten Blätter galten als beruhigend bei Krämpfen und wurden im Aufguss zur Magenstärkung eingesetzt. Die getrockneten Schalen der reifen Frucht wiederum dienten zur Reizung der Verdauungswerkzeuge und enthielten ein bitteres, gewürzartiges, ätherisches Öl. Aus den Blüten schließlich wurde durch Destillation ein äußerst begehrtes, wohlriechendes Duftöl gewonnen.
So weit, so gut. Aber half mir das weiter? Ich nahm die Frucht abermals in die Hand und studierte sie genau. Außer dass sie bereits recht trocken war, fiel mir an ihr nichts auf. War sie vielleicht die Antwort auf meine Rose? Eine Pomeranze als Antwort auf eine Rose? Das machte keinen Sinn. Wahrscheinlich hatten sich beide Sendungen zeitlich überschnitten. Ich grübelte weiter, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Schließlich gab ich auf. Was erwartest du eigentlich?, schalt ich mich. Dass Odilie dir heiße Liebesbriefe schreibt? Das hast du ebenfalls nicht getan, und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Sei zufrieden mit dem, was du bekommen hast. Es sagt dir, dass Odilie lebt, dass sie an dich gedacht hat und dass sie unsere gemeinsame Zeit nicht vergessen hat. Mehr kannst du nicht verlangen.
»Mehr können wir nicht verlangen«, sagte ich laut zu Schnapp. Ich nahm die Frucht und legte sie auf das Bord an der Wand, damit ich sie gut sehen konnte.
Dann begaben Schnapp und ich uns zur Ruhe. Doch ich konnte nicht schlafen. Ich zündete eine Kerze auf dem Tisch an und starrte in ihrem Schein die Pomeranze an, als könnte sie sprechen und mir ihr Geheimnis verraten. Doch sie schwieg. Ich grübelte weiter und kam zu keinem Ergebnis.
Irgendwann gegen Morgen sank mir der Kopf zur Seite, und ich fand endlich Schlaf.
Kapitel 9
Erfurt,
6 . Januar bis 25 . März 1505
D ie Weihnachtstage 1504 und den Beginn des neuen Jahres hatte ich in der Georgenburse verbracht. Die meisten der Brüder waren über die Feiertage nach Hause gefahren, und auch ich hätte gern einmal meinen Vater und meine Stiefmutter wiedergesehen und Freunde und Bekannte in Siegershausen begrüßt, doch die Reise in den Süden war zu lang und zu beschwerlich, und überdies fehlte mir dazu das nötige Geld. So blieb mir nichts anderes übrig, als in meiner Kammer zu sitzen und zu studieren. Ich machte von meinem Privileg, beliebig viele Bücher aus der Bibliotheca Amploniana entleihen zu dürfen, gründlichen Gebrauch und las viele Stunden am Tag. Die Reihenfolge, in der ich las, war zum Teil recht zufällig, denn von manchem der kostbaren Werke gab es nur ein Exemplar, das nicht immer verfügbar war. Aber das störte mich nicht weiter.
Ich las die Werke der alten Meisterärzte, und während ich mich mit ihren Schriften beschäftigte, drang ich von Mal zu Mal tiefer in das geheime Wissen der Medizin ein. Ich studierte alles, was ich noch nicht über Galen gelesen hatte: Die Werke
Ars medica, Decrisibus, De febrium differentiis
und
De ingenio sanitatis,
ich beschäftigte mich mit dem
Kanon
von Avicenna, einem arabischen Arzt, der auch als Ibn Sina bekannt ist, und las das
Antidotarium Nicolai,
ein Werk, das Nikolaus von Salerno aus elfhundert vorwiegend arabischen Rezepten herausgefiltert hatte. Die verbliebenen einhundertzwanzig Rezepte sind seit jenen Tagen die Grundlage jeglicher Arzneizubereitung.
Es war eine friedliche Zeit, zu der die Kunde über den Krieg,
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