Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
Vom Netzwerk:
Blut ist der Saft der Säfte, ein einmaliger
sucus,
auf den es ankommt. Sein Kreislauf ist der Strom des Lebens, der im Herzen seinen Anfang nimmt.«
    Fast andächtig hatten wir bis dahin den Worten de Berkas gelauscht, doch die erstaunlichste Eigenschaft des Blutes sollten wir erst noch erfahren. Der Professor entrollte eigenhändig ein zweites Schaubild, welches Rumpf und Genitalien von Mann und Frau zeigte, und sprach weiter: »Ich komme nun zu einer besonderen Beschaffenheit des Blutes, die nur im Zustand seiner vollständigen Reife auftritt. Es ist der Zustand, den wir Samen nennen.«
    Ein Raunen ging durch den Hörsaal. De Berka blickte uns spöttisch an. »Ich wusste, dass dieses Thema Eure ungeteilte Aufmerksamkeit finden würde, meine Herren Studiosi. So höret denn: Der männliche Same ist nichts anderes als reifes Blut, wobei gesagt wird, dass der beste der wohltemperierte ist. Wenn er aber zu dünn oder zu dick das Glied verlässt oder seine Farbe verändert hat, so ist er verdorben. Dies erkannte schon vor rund zweitausend Jahren der uns wohlbekannte Hippokrates. Doch zurück zum Samen: Das Kennzeichen dafür, dass er nichts anderes ist als reifes Blut, besteht darin, dass derjenige, der zu viel bei den Frauen liegt, Samen verliert, der wie Blut aussieht …
    Ach übrigens, Säckler, haltet das Schaubild ein wenig höher. Danke. Kommen wir nun zur Entstehungsart und zum Entstehungsort des Samens: Er entsteht im ganzen Körper, fließt von jedem Punkt des Leibes zu den Rückenwirbeln hin, strömt von dort in die beiden Nieren und weiter in die Hoden, danach in das männliche Glied und vermischt sich letztendlich in der Gebärmutter mit dem Samen der Frau, so dass aus beiden zusammen das Kind erzeugt wird. Sobald der Same zur Gebärmutter gelangt, nimmt sie ihn in sich auf. Daraufhin verändert er sich. Er wird nach dem sechsten Tage ähnlich wie Schaum, nach vierzehn Tagen wie Blut und nach sechsundzwanzig Tagen einem Klumpen gleich. Dieser bläht sich auf und wächst mit jedem Tag durch den Atem der Frau sowie durch das, was aus der Luft an Stoffen in sie hineinkommt. Dann spaltet sich der Blutklumpen, und an der Stelle der Spaltung entsteht der Nabel. Er ist der Verbindungsstrang, aus dem der Atem der Frau in das Kind gelangt. Sooft das Kind nun selbst atmet, gelangt die Nahrung zu ihm. Die Nahrung besteht in dem Blut, das aus dem ganzen Leib der Mutter zu ihm hinfließt und von der Säuglingshülle zurückgehalten wird, von der es umgeben ist.«
    Nach dieser langen Erklärung hielt de Berka inne. »Das sind viele Dinge auf einmal, ich weiß, meine Herren Studiosi, deshalb werden wir die einzelnen Vorgänge noch einmal der Reihe nach durchgehen.«
    Er tat, wie angekündigt, und nachdem wir alle Fakten und Zusammenhänge verstanden und aufgeschrieben hatten, fügte er noch eine Bemerkung hinzu: »Wisset, meine Herren Studiosi«, sagte er, »wer einmal bei einer Geburt dabei war und gesehen hat, wie der Säugling das Licht der Welt erblickt, wer beobachtet hat, wie er heranwächst, wer gehört hat, wie er sein erstes Wort spricht, der mag ahnen, wie groß das Wunder des Lebens ist, der mag ermessen, dass es der Mensch ist, der die Krönung der Schöpfung darstellt. Zu dieser Krönung aber verhilft uns nur eines: die Sprache und ihre Kultivierung. Sie macht uns zu dem, was wir sind, und sie gibt mir, ganz nebenbei, die Möglichkeit, Euch, meine Herren Studiosi, über das Blut und seine Ausformungen genauestens zu berichten.«
    De Berka lächelte und nickte. »Womit wir wieder beim Ausgangspunkt unserer Lektion wären. Ich wünsche Euch noch einen guten Tag.«
    Sehr nachdenklich verließ ich den Kleinen Hörsaal. Während der Ausführungen des Professors hatte ich immer wieder an die Schnittentbindung denken müssen, die mein Vater an meiner Stiefmutter vorgenommen hatte. Auch damals hatte ich den Vorgang schon als Wunder empfunden, nur dass ich die Geheimnisse, die zur Entstehung eines Kindes führten, noch nicht gekannt hatte. Ich spürte in diesem Augenblick mehr denn je, was meine Bestimmung als Arzt sein würde: Ich wollte alles, was mit Zeugung, Geburt und Geburtshilfe zu tun hatte, verstehen und weiter erforschen. Und ich wollte die Schnittentbindung an der lebenden Mutter erfolgreich durchführen können.
    So, wie es mein Vater mir vorgemacht hatte.
     
    Zwei Tage später, es war ein Donnerstag, saßen Luther, Barward Tafelmaker und ich nach dem Abendessen in meiner Kammer. Ich hatte einen

Weitere Kostenlose Bücher