Der Medicus von Heidelberg
ausführlichen Brief von meinem Vater erhalten und war glücklich über das Lebenszeichen von daheim. Allen ging es gut, auch meinem jüngeren Bruder Elias sowie Jonas und den beiden Zwillingen. Tafelmaker sagte, nach seiner Vermutung müssten hundert Frauen niederkommen, bis eine dabei wäre, die Zwillinge gebäre. Ein solches Ereignis könne kein Zufall sein, es müsse da Gesetzmäßigkeiten geben …
Ich ahnte nichts Gutes und sagte: »Fang nicht wieder mit deiner Mathematik an«, und Luther griff rasch zur Laute, um ihn abzulenken. Es gelang, denn ohne Wein war unser Mathematicus ein friedlicher und wenig verbissener Mensch. Wir sangen ein paar Lieder und redeten dann über die Vielfalt der Reimformen, über Verszahl und Versmaß, und bevor Tafelmaker in Versuchung kommen konnte, auch hier mathematische Zusammenhänge zu erkennen, sagte ich rasch: »Vorgestern habe ich einen bemerkenswerten Satz von Professor de Berka gehört. Er lautete: Der Mensch ist die Krönung der Schöpfung. Zu dieser Krönung aber verhilft ihm nur eines: die Sprache und ihre Kultivierung. Sie macht ihn zu dem, was er ist.«
Luther dachte eine Weile über den Sinn der Worte nach, dann sagte er: »Von unserem derzeitigen Rektor Professor Huthenne wusste ich, dass er einer ist. Aber wie es sich anhört, muss man auch de Berka dazurechnen.«
»Zu was?«, fragte ich verständnislos.
»Zu den Humanisten«, antwortete Luther.
»Von denen habe ich schon gehört«, meinte Tafelmaker. »Ist das so etwas wie ein Geheimbund?«
»Ich glaube nicht«, sagte ich. Auch ich hatte schon von den Männern gehört, denen die Werte und die Würde des Menschen über alles ging.
Luther schlug einen Akkord und legte die Laute beiseite. »Soviel ich weiß, findet man die Humanisten in erster Linie unter Wissenschaftlern und Dichtern. Sie sehen in der Sprache den Unterschied zum Tier und den Ursprung gelebter Menschlichkeit. Die Sprache hebt uns empor und befähigt uns zum Philosophieren. Sie macht uns zum Individuum, sie versetzt uns in die Lage, den Irrweg mancher christlicher Dogmen, wie die Einrichtung der Inquisition, zu erkennen.«
Ich nickte. »Die Inquisition ist barbarisch und unzeitgemäß.«
»Und dennoch gibt es sie«, sagte Tafelmaker.
»Genau wie den Ablass«, bestätigte Luther. »Das Problem bei der Inquisition ist: In dem Moment, wo du sie in Frage stellst, machst du dich zum Ketzer – und gerätst, ob du willst oder nicht, in ihr Räderwerk.«
»Und landest auf der Folterbank«, ergänzte Tafelmaker.
»Richtig«, sagte ich. »Die Inquisition ist eine Einrichtung, die keine Kritik zulässt. Sie ist in hohem Maße intolerant.«
Luther nickte. »Und damit inhuman. Ich hoffe, dass immer mehr Gebildete in unserem Land das erkennen.«
»Wir jedenfalls haben das erkannt, was, Brüder?« Tafelmaker blickte Luther und mich auffordernd an.
»So ist es«, sagte ich.
Luther nickte ernst. »Ja, wir sollten uns wie die Humanisten zur Menschlichkeit bekennen, aber nicht darüber reden. Noch nicht.«
Mir fiel ein, dass auch de Berka immer dann, wenn der Stoff, den er lehrte, mit der Religion nicht im Einklang stand, einen Rückzieher machte. »Es ist schade, dass man als Humanist nicht das sagen kann, was man denkt. Man müsste für Toleranz und Gerechtigkeit kämpfen. Und dafür, allem Neuen gegenüber offen sein zu dürfen.«
»Richtig. Und bei alledem ein guter Katholik bleiben«, fügte Luther hinzu. »Wollen wir so sein?«
»Ja«, sagten Tafelmaker und ich.
Feierlich gaben wir uns die Hand und kamen uns sehr edelmütig vor.
»Die Zeit des Kampfes wird kommen«, sagte Luther.
In den folgenden Wochen las ich wieder sehr viel abends in meiner Kammer. Ich studierte das
Regimen
von Maimonides, vertiefte mich in die Werke von Averroës, einem spanisch-arabischen Philosophen und Arzt, der auch unter dem Namen Ibn Rušd bekannt ist, las
Colligiet
sowie
De Medicinis Simplicibus,
ein Werk, das mich besonders fesselte, da es die einfachen Heilmittel behandelte, ebenso wie die
Practica Brevis,
ein Verzeichnis mannigfaltiger Behandlungsweisen, das von unterschiedlichen Heilkundigen verfasst worden war. Einer von ihnen nannte sich Matthaeus Platearius. Er vertrat die Auffassung, die medizinische Theorie sei die Wissenschaft von den Ursachen; die Praxis dagegen die Wissenschaft von den Anzeichen. Wobei die Praxis nicht denkbar wäre, wenn ihr die Theorie nicht vorausginge. Wer indes die Theorie nicht beherrsche, so seine Meinung, sei nur den
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