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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Körpersaft gelten kann?«
    Da niemand die Antwort wusste, fuhr er fort: »Nun, der Harn ist das Gemisch aller im Körper befindlichen Säfte, er entstammt somit letztlich aus den uns bekannten vier. Doch zurück zu unserer
matula.
Wohl gefüllt mit Harn, kann sie dem Arzt behilflich sein, so manche Krankheit zu erkennen. Wir nennen diese Kunst Uroskopie. Doch bevor wir sie anwenden, müssen wir uns mit dem Harn ein wenig besser auskennen. Wisset also, meine Herren Studiosi: Nicht jeder Harn ist von Natur aus gelb. Die Lehrmeinung unterscheidet nicht weniger als zwanzig Farben, von Kristallklar über Hellgelb, Taubengrau, Himbeerrot, Tiefgrün bis hin zu Schwarz.«
    De Berka machte eine Pause und reichte Säckler die
matula.
»Würdet Ihr so freundlich sein und kurz austreten, um das Gefäß zu füllen?«
    Säckler errötete unter dem Gelächter der Kommilitonen, verließ aber den Raum und kam nach wenigen Augenblicken zurück, das gefüllte Gefäß in der Hand.
    »Ich danke Euch.« De Berka schüttelte das Glas und betrachtete es kritisch. »Wir sprechen von dünnflüssigem, mittelflüssigem und dickflüssigem Harn und teilen die Flüssigkeitssäule der
matula
in drei Zonen ein: die obere, die mittlere und die untere. Je nachdem, wo sich bestimmte Substanzen wie Bläschen, Tröpfchen, Wölkchen, Flöckchen und so weiter absetzen, sind sie Anzeichen dafür, was dem Patienten fehlt. Hat alles seine Ordnung, wissen wir, dass die Körpersäfte sich im Gleichklang befinden, ein Zustand, den wir – und das wisst Ihr bereits, meine Herren Studiosi – Eukrasie nennen. Im Gegensatz zur Diskrasie.«
    De Berka hielt abermals inne und sah Säckler an. »Eure Harnprobe, Herr Studiosus Säckler, sagt mir, dass Ihr gesund seid, was allerdings bei Eurem jugendlichen Alter nicht weiter verwundert. Was nun die anderen Herren Studiosi angeht, so sehe ich ein paar ungläubige Gesichter. Sind unter Euch etwa solche, die Zweifel an der Kunst der Uroskopie hegen?«
    Da niemand die Frage entschieden verneinte, fuhr er fort: »Nun, dann werde ich Euch eine Geschichte erzählen. Sie ist schon sehr alt und bereits von manchen meiner Kollegen wiedergegeben worden, aber dessen ungeachtet wahr. Lukas Nufer, unseren geschätzten Mitkommilitonen, wird sie besonders interessieren, da sie im Land der Eidgenossen spielt. Höret also: Die frommen Brüder zu St. Gallen prüften im Jahre 950 eine Harnprobe des Bayernherzogs Heinrich I. und lasen daraus, dass er innerhalb des nächsten Monats niederkommen würde. Mit der Verkündung dieses Ergebnisses bewiesen sie nicht nur Kennertum, sondern auch Unerschrockenheit, denn der hohe Herr hätte den Befund durchaus als Beleidigung seiner Mannesehre auffassen können. Heinrich jedoch war hocherfreut, denn um die Kunst der Mönche auf die Probe zu stellen, hatte er statt seines eigenen Urins den einer hochschwangeren Magd untersuchen lassen.«
    Lautes Gelächter belohnte de Berka für seine Geschichte.
    »Ihr lacht, meine Herren Studiosi, aber diese Begebenheit lehrt uns, dass die Uroskopie ernst zu nehmen ist. Sie kann dem Heilkundigen sehr bei der Diagnose helfen. Wobei ich das Wort ›kann‹ betonen möchte, denn auch hier sind, wie bei allen Befunden, fatale Irrtümer möglich. Nehmen wir als Beispiel einen sehr gelben Harn. Viele Uroskopisten würden aufgrund dieser Beschaffenheit auf Leberprobleme, vielleicht sogar auf eine Gelbsucht schließen. Die Erklärung für die Verfärbung kann jedoch viel harmloser sein – dann nämlich, wenn der Harngeber vorher eine Portion Möhren zu sich nahm.«
    Mit einer Handbewegung unterband de Berka die erneut aufkommende Heiterkeit. »Ihr seht, meine Herren Studiosi, alles hat seine zwei Seiten, und als Arzt kann man nicht vorsichtig genug sein, bevor man ein Symptom zur Grundlage der Behandlung macht. Und da wir schon bei der Vorsicht sind: Manche Weisheiten der ärztlichen Kunst entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als Scharlatanerie. Ich spreche von dem Lehrsatz
Similia similibus curentur,
also von der These, dass Gleiches mit Gleichem kuriert werde. Was ist darunter zu verstehen? Ich will es an einigen Beispielen deutlich machen: Wer unter Kopfschmerz leidet, dem rät der Quacksalber, eine Walnuss zu essen. Warum? Weil der Kern der Nuss einem menschlichen Gehirn ähnelt. Oder nehmen wir einen Herzkranken: Ihm würden die herzförmigen Blätter des orientalischen Trompetenbaums zum Verzehr gereicht – mit verhängnisvollem Ausgang, denn die Blätter

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