Der Medicus von Heidelberg
quer von Schulter zu Schulter vornahm – begleitet von dem unterdrückten Stöhnen einiger Zuschauer –, setzte danach neu an und machte eine zweite Inzision, zentral abwärts bis zum Schambein.
»Einen Augenblick, Meister Karl«, bat de Berka, um Zeit für eine Erklärung zu gewinnen. »Was Ihr soeben gesehen habt, meine Herren Studiosi, nennen wir den T-Schnitt. Er gibt uns die Möglichkeit, alle inneren Teile des Brust- und Bauchraumes herauszunehmen. Doch zuvor müssen das Brustbein, das wir auch als
sternum
bezeichnen, und die angrenzenden Rippen entfernt werden. Bitte fahrt fort, Meister Karl.«
Nach weiteren fachkundigen Schnitten griff Meister Karl zur Säge, um das
sternum
zu durchtrennen. Plötzlich merkte ich, wie Rochus Säckler neben mir die Knie weich wurden. Das knirschende Sägegeräusch war wohl zu viel für ihn gewesen. Geistesgegenwärtig griff ich ihm unter die Achseln und zischte: »Nimm dich zusammen, oder ich muss dich hinausbringen!«
Glücklicherweise hatte de Berka in diesem Augenblick weitere Erklärungen abgegeben, so dass niemand meine Worte hören konnte, doch trotz meiner Hilfeleistung hatte der sonst so mustergültige Säckler erhebliche Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Nach ein paar tiefen Atemzügen ging es ihm wieder besser, und wir konnten weiter dem Geschehen folgen.
»… Herz, Lunge, Leber und die anderen Innereien sollen jetzt einzeln von Meister Karl herauspräpariert werden, meine Herren Studiosi. Er wird sie auf diesen marmornen Bock legen, damit Ihr Euch die Formen, die Farben und die Beschaffenheiten genau ansehen könnt.«
Wie angekündigt, verrichtete Meister Karl seine Arbeit, wobei er sich immer wieder die Hände an der Schürze abwischte. Ich kam nicht umhin, an die Tätigkeit eines Metzgers zu denken. Es war in der Tat ein blutiger Anblick, vor dem de Berka uns nicht umsonst gewarnt hatte. Säckler und auch die anderen Kommilitonen hielten sich nach anfänglichen Schwierigkeiten wacker, dennoch, so glaube ich, war jeder von uns froh, als de Berka schließlich verkündete, Meister Karl würde jetzt die Innereien wieder an ihren alten Platz legen und den Leichnam zunähen.
Wenig später führte er uns hinaus und zurück in den Kleinen Hörsaal, wo er ausnahmsweise einmal nicht vor uns auf und ab ging, sondern stehen blieb und sagte: »Das, meine Herren Studiosi, war Euer erster, leibhaftiger Eindruck eines sezierten menschlichen Körpers. Weitere Lektionen in der Anatomie werden folgen, denn die inneren Teile sind nur ein Bruchteil dessen, was Ihr erkennen und zuordnen müsst. Vor Euch liegt noch ein langer Weg. Macht den ersten Schritt und zeichnet sorgfältig alles auf, was Ihr heute gesehen habt. Zur Unterstützung habe ich mehrere Schaubilder mit den entsprechenden Figuren an die Wand hängen lassen. Unser Kommilitone Säckler wird so freundlich sein und sie danach wieder forträumen, nicht wahr?«
»Jawohl, Herr Professor«, beeilte dieser sich zu versichern.
»Meister Karl wird später dafür sorgen, dass unser Leichnam mit Anstand unter die Erde kommt. Und er wird darüber mit niemandem sprechen – denn er ist stumm. Macht es ihm nach und seid genauso verschwiegen! Und nun wünsche ich Euch noch einen guten Tag.«
Sprach’s und verließ mit langen Schritten den Raum.
Einen Tag später, man schrieb Sonntag, den dreiundzwanzigsten Februar, begegnete Luther mir nach der Frühmesse auf dem Gang des Oberstocks. Er sah aus, als hätte er wieder einen seiner Trübsinnsanfälle gehabt, und sagte zu mir: »Mir sitzt ein Knoten in der Seele, ich brauche frische Luft, Lukas. Hast du Lust, mit mir draußen vor der Stadt einen Spaziergang zu machen?«
»Ja, gern.« Die Bilder von Meister Karl und seiner blutigen Vorführung kreisten noch immer in meinem Kopf herum, deshalb hatte ich nichts dagegen, auf andere Gedanken zu kommen. Wir verließen das Haupthaus, gingen an der Küche vorbei, wo wir uns für den Tag eine gute Wegzehrung mitgeben ließen, und machten uns auf den Weg.
Nachdem wir eine Weile am Ufer eines Nebenarms der Gera entlangmarschiert waren – Schnapp dabei immer brav in unserer Mitte –, fragte ich: »Wohin gehen wir eigentlich?«
»Nach Norden«, sagte Luther. Er wies mit der Rechten zum Horizont, wo sich Felder und Wiesen über viele Meilen hin erstreckten. »Es ist eine schöne Gegend da. Du kannst es zum jetzigen Zeitpunkt, wo alles noch brachliegt, nur ahnen, aber wenn erst der Frühling ins Land gezogen ist, gibt es kein
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