Der Medicus von Heidelberg
nicht unbedingt gegen ihn sprechen. An seinen langen Gliedmaßen saßen feste Muskeln, und das war die Hauptsache.
Muhme Lenchen sagte: »Wenn du dich bei Tisch benimmst, kannst du mit uns essen.«
»Ja«, sagte der Einäugige.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Reimar.«
»Gut, Reimar, dann merke dir gleich: Gegessen wird morgens um sechs, mittags um zwölf und abends um sechs. Wer zu spät kommt, wischt sich die Nase.« Muhme Lenchen machte ein strenges Gesicht.
De Berka grinste. »Es sei denn, er appelliert an dein gutes Herz, nicht wahr, Muhme Lenchen?«
»Nun, nun …« Sie errötete, fasste sich aber rasch wieder. »Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Der Herr Professor spricht das Tischgebet, und jeder nimmt sich, so viel er braucht. Bei mir ist noch jeder satt geworden.«
»Danke«, sagte Reimar und setzte sich.
Wir aßen gemeinsam, doch ein rechtes Tischgespräch wollte sich nicht entwickeln, vielleicht, weil Reimar nach wie vor einsilbig blieb.
Nach dem Essen, als de Berka und ich noch ein Glas Wein in der Bibliothek tranken, sagte ich zu ihm: »Ein Mann des Wortes scheint dieser Reimar nicht zu sein.«
»Wahrhaftig, da hast du recht. Aber Eustach braucht einen Träger und keinen Redner, und wer wenig redet, sagt nichts Falsches. Im Übrigen scheint er mit dem Auge flinker zu sein als mit dem Mund: Hast du gesehen, wie er Lilott angeschaut hat?«
»Nein«, musste ich einräumen, »mir fehlt der Blick für so etwas.«
De Berka schmunzelte. »Das verstehe ich. Nach allem, was du mir über dich erzählt hast, gibt es ohnehin nur eine, der deine ganzen Gedanken gelten. Trinken wir also auf Odilie.«
»Ja«, sagte ich glücklich, »auf Odilie.«
Am zwanzigsten Juni, es war ein Freitag, hatten wir noch einmal das Glück, einen weiblichen Leichnam auf den Seziertisch zu bekommen. Es handelte sich, wie Eustach erzählte, um die sterbliche Hülle einer Knopfmacherin namens Elsbeth Starnow. Die Frau habe keine Verwandten gehabt und erst seit kurzem in der Stadt gelebt.
Auf meine Bitte hin beschäftigten de Berka, Meister Karl und ich uns mit dem Unterleib der Toten, denn ich hatte das Gefühl, noch immer viel zu wenig über die Gebärmutter zu wissen. Leider wurde auch diese Höhle nicht von einem Embryo bewohnt, doch es gab anderes unter dem Vergrößerungsglas zu entdecken.
An Ort und Stelle zeichnete ich die mäandernden Kanäle, Tuben und Trichter ab, notierte ihre Farbe, die Beschaffenheit ihres Gewebes und nicht zuletzt ihre Position und ihre Beziehung zu den umliegenden Teilen. Ich fertigte Skizzen aus verschiedenen Blickwinkeln an, vergrößerte manche Ansichten und versah die entstandenen Figuren mit Nummern. Ich stellte die Maße der Innenhöhle fest und versuchte, sie mit einem Strohhalm aufzublasen, um die Dehnungsfähigkeit der Muskulatur zu ermitteln. Ich beschrieb den Halskanal der Gebärmutter, die Pforte des Muttermundes und den Übergang in die röhrenförmige Ausbildung der Scheide.
Das alles tat ich, und de Berka und Meister Karl unterstützten mich dabei nach Kräften, denn sie spürten, dass die Erforschung der weiblichen Genitalien meine Bestimmung war.
Irgendwann blickte ich auf und sagte zu de Berka: »Wenn du einverstanden bist, beenden wir für heute die Sektion, und Meister Karl näht die Leiche wieder zu.«
»Ich bin es«, sagte de Berka. Seine Stimme klang erschöpft, denn die Luft in der Grube war zum Schneiden dick.
»Ich fürchte, wir haben die Abendmahlzeit verpasst, und es gibt ein Donnerwetter in der Küche«, sagte ich, ohne zu wissen, wie recht ich damit hatte. Denn oben angelangt, erwartete uns tatsächlich ein Donnerwetter. Jedoch ein ganz anderes als vermutet. Denn nicht Muhme Lenchen stand uns gegenüber, sondern Ekkehart von Obernissa, der Hauptmann der Stadtwache, flankiert von zwei Soldaten.
Von Obernissa deutete eine Verbeugung an, lächelte herablassend und sagte: »Ich werde Euch keinen guten Abend wünschen, meine Herren, denn es wird für Euch kein guter Abend werden.« Er schritt auf die noch offen stehende hölzerne Klappe zu und blickte hinunter in die Vorratsgrube. »Gebt zu, dass dies die Leiche der Elsbeth Starnow ist und dass Ihr sie seziert habt.«
De Berka straffte sich. »Es geschah im Dienste der Wissenschaft. Seit wann ist das verboten?«
»Wenn es nicht verboten ist, warum geschah es dann heimlich im Verborgenen?«
»Nun, äh …« De Berka suchte nach Worten.
Ich mischte mich ein. »Die Sektion fand auf meinen Wusch hin
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