Der Medicus von Heidelberg
in seinem Haus empfangen hatte, den Unterricht für das neue Semester wohl beginnen würde. Ob er zur Einführung einen Vortrag über die wichtigsten chirurgischen Instrumente hielt? Schließlich hieß es nicht umsonst, ein Arzt ohne Instrumente sei wie ein Ritter ohne Schwert. Oder würde er den Anfang mit Galen und dessen Viersäftelehre machen, da sie die Erklärung der wichtigsten Körpervorgänge lieferte und – wie jeder halbwegs Gebildete wusste – das Fließverhalten des Blutes, der gelben Galle, der schwarzen Galle und des Schleimes der Schlüssel für jede Diagnose war? Oder würde er über den Schmerz referieren, den Hauptfeind des Wohlbefindens, den Erzfeind des Arztes, der seine Ursachen in einem Bruch, einem Schlag, einer Entzündung, einer Verbrennung oder einer Geschwulst haben konnte?
Nichts von alledem trat ein. De Berka, dessen Leutseligkeit an diesem Morgen einer konzentrierten Miene gewichen war, sagte nach einer kurzen Begrüßung: »Die Medizin, meine Herren Studiosi, wie wir sie kennen und praktizieren, hat ihren Ursprung in der griechischen Heilkunst. Und die griechische Heilkunst beginnt mit Hippokrates und seinem Eid. Ihr werdet diesen Eid erst nach erfolgreichem Studium ablegen, aber seinen Inhalt und seine Bedeutung sollt Ihr vom ersten Tage an kennen und achten. Er ist die Quintessenz dessen, was einen vorbildlichen Arzt ausmacht, gewissermaßen das A und O.«
De Berka, der bis zu diesem Zeitpunkt vor den lauschenden Studenten auf und ab gegangen war, blieb stehen und machte eine bedeutungsvolle Pause. Dann sprach er weiter: »Der Eid beginnt mit den Worten:
Ich schwöre bei Apollon, dem Arzte, bei Asklepios und Hygieia und Panakeia und allen Göttern und Göttinnen, die ich als Zeugen anrufe …
« Abermals unterbrach er sich. »Die Namen der Götter sind selbstverständlich ein Synonym für den Einen Gott, Gott den Allmächtigen, den wir loben und preisen, denn der griechische Arzt, der mehrere hundert Jahre vor Jesu Geburt lebte, konnte es nicht anders wissen. Ich werde im Weiteren nicht jedes Wort und jeden Satz mit Euch besprechen – dafür mag bei späteren Lesungen immer noch Zeit sein –, sondern nur das Wichtigste. Es heißt in der Eidesformel ferner: …
Von ärztlichen Verordnungen werde ich nur zum Heile der Kranken Gebrauch machen, nach meinem Vermögen und meiner Einsicht, und Schädigung und Unrecht von ihnen abwehren.
Nun, was bedeutet das? Nicht mehr und nicht weniger, als dass der Arzt die Macht, die er kraft seines Wissens in den Händen hält, niemals missbrauchen wird. Mehr noch: Er wird alles dafür tun, dass seine Medikamente und Maßnahmen zum Heilerfolg führen, und gleichzeitig jegliches Unbill, das dem Kranken von außen widerfahren könnte, zu unterbinden versuchen.«
De Berka, der den Eid aus dem Gedächtnis zitierte, nahm seine Wanderung wieder auf. »
Nie werde ich einem ein tödlich wirkendes Mittel verabreichen, auch wenn es von mir verlangt wird, noch einen dahin zielenden Rat erteilen.
Was sagt uns das?« Auffordernd hob er den Kopf und blickte über die Reihen hinweg. Einer der Studenten antwortete: »Das Leben ist heilig, Herr Professor.«
De Berka gestattete sich ein Lächeln. »Heilig sind der Heiland und die Heiligen, mein lieber Freund. Sagen wir es besser so: Der Wert des Lebens steht für den Arzt über allem. Es zu erhalten muss sein ganzes Sinnen und Trachten sein. Gott hat uns dieses Leben gegeben, und nur er darf es uns wieder nehmen. Ganz gleich, wie schlimm die Umstände sein mögen. Der verantwortungsbewusste Arzt wird niemals ein tödliches Gift verabreichen, niemals einwilligen, mit seiner Kenntnis der Arzneien Schindluder zu treiben, niemals seine Hilfe zum Mord oder Selbstmord gewähren. Niemals!«
Wie ein ehernes Gesetz stand das Wort im Raum. Fast andächtig verfolgten die Studenten de Berkas weiteren Ausführungen. »
Ebenso wenig werde ich einer Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben. Heilig und rein halten werde ich mein Leben und meine Kunst.
Mit anderen Worten: Der Arzt wird niemals seine Hilfe zur Abtreibung anbieten, geschweige denn sie selbst vornehmen. Er ist Behüter und Bewahrer des ungeborenen Lebens. Diese Pflicht wird er nie vergessen, einerlei, welche Vorteile er durch die Vernachlässigung seiner Aufgaben auch hätte …«
An dieser Stelle musste ich an meinen Vater denken, der im Schwabenkrieg zwar nur als Feldscher gedient hatte, aber sicher ein guter Medicus geworden wäre. Er hatte seine
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