Der Medicus von Heidelberg
Entscheidung, den Versuch zu wagen, umso schwerer fällt, je mächtiger und einflussreicher der Patient ist. Die Liste der Ärzte, die nach einer misslungenen Behandlung zum Tode verurteilt wurden, ist lang.«
De Berka legte mir die Hand auf die Schulter. »Ihr seht, Nufer, ich bin ganz offen zu Euch. Vielleicht offener, als ich sein sollte. Das mag daran liegen, dass Ihr in meinem Freund Johann Heinrich Wentz einen Fürsprecher habt, oder daran, dass Ihr schon ein Magister der Künste seid – ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass jeder Studiosus der Medizin lieber einmal mehr als einmal zu wenig überlegen soll, ob er die Berufung zum Heilkundigen wirklich spürt.«
»Ich spüre sie, Herr Professor. Nach der heutigen Lektion mehr denn je.«
»Ich zweifle nicht daran. Soll ich Euch etwas verraten? Es war kein Zufall, dass ich das Pergament mit den Abbildungen zum Steinschnitt ausrollen ließ und die Operation besprach. Ich mache das bei jedem Erstsemester so. Und ich beobachte die Herren Studiosi dabei sehr genau.«
»Und welche Erkenntnisse habt Ihr heute gewonnen, Herr Professor?«
De Berka lächelte. Es war kein leutseliges Lächeln, sondern ein schmerzliches. »Natürlich hat sich vorhin, als ich die Herren Studiosi aufforderte, es sich mit dem Studium noch einmal zu überlegen, niemand gemeldet. Das war
coram publico
auch nicht unbedingt zu erwarten. Doch ein Drittel von ihnen wird spätestens nach einem halben Jahr das Studium aufgegeben haben. So viel ist gewiss.«
Da ich nicht sicher war, ob der Professor ein tröstendes Wort von mir hören wollte, schwieg ich lieber. Aber de Berkas Miene hellte sich bereits wieder auf. »Diejenigen jedoch, die dabei bleiben, werden zu umso besseren Ärzten heranwachsen und die Leitgedanken ernst nehmen, die unserer Zunft von alters her überkommen sind. Kennt Ihr sie?«
»Nein, Herr Professor.«
»Sie lauten:
Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, der rechte Augenblick rasch enteilt, der Versuch trügerisch, das Urteil schwierig.
Da habt Ihr die ganze Problematik unseres Berufes in geballter Kürze. Aber ich nehme an, Ihr wollt immer noch Arzt werden?«
»So ist es, Herr Professor.«
Der Nachmittag dieses ereignisvollen Tages sah mich nicht mehr in der Rolle des Schülers, sondern in der des Lehrers, denn ich gab Nachhilfestunden in Latein. Ich hätte lieber das am Vormittag Gehörte durch entsprechende Lektüre vertieft oder wäre gern mit Schnapp spazieren gegangen, doch Gansdorff, der Regent, hatte mich beiseitegenommen und gesagt: »Mein lieber Nufer,
sponsa sunt servanda,
wie es so schön heißt. Zusagen sind einzuhalten, aber daran muss ich Euch sicher nicht erinnern, haha! Engelhuss jedenfalls – Ihr wisst schon, er sitzt bei Tisch zu Eurer Rechten –, Engelhuss also, der sonst am Freitag die Lateinnachhilfe gibt, laboriert an einem Fieber. Ich muss Euch deshalb bitten, ihm in guter Kollegialität auszuhelfen.«
»Scilicet«,
hatte ich geantwortet, was so viel wie »selbstverständlich« bedeutet.
Die Lektionen fanden neben dem Remter in einem Raum statt, der mich in seiner Kargheit an meine Kammer erinnerte. Er war zwar größer, aber genauso wenig einladend. Ein paar harte, hölzerne Bänke für die Schüler und ein Pult für den Lehrer machten die Einrichtung aus. Helligkeit spendeten vier schießschartenschmale Fenster oder, bei mangelndem Tageslicht, ein paar tönerne Öllampen an den Wänden.
Dass es in einer solchen Umgebung nicht gerade Freude machte, seine Fähigkeiten in der Sprache der Wissenschaft zu verbessern, sah man den Gesichtern der Eintretenden an. Die meisten von ihnen waren noch jung, kaum über sechzehn Jahre alt. Einige hatten an ihrem Heimatort die Lateinschule nur kurz besucht, andere das Noviziat in einem Kloster abgebrochen, wieder andere ließen die nötige Sprachbegabung vermissen.
»Salvete, discipuli«,
begrüßte ich sie.
»Salve«,
antworteten sie im Chor.
»Considite.«
Sie setzten sich, und ich hatte Gelegenheit, sie näher zu betrachten. Es war ein knappes Dutzend Knaben, der eine oder andere noch mit Flaum am Kinn und Pickeln im Gesicht. Ich begann die Lektion, indem ich zunächst einmal feststellte, was sie konnten oder, besser gesagt, nicht konnten. Ich fragte sie, ob ihnen das
Doctrinale
bekannt sei, und als sie das bejahten, mussten sie mir mit ihren eigenen Worten erklären, dass dieses Lehrgedicht in leoninischen Hexametern abgefasst ist und – aufbauend auf Donat und Priscian –
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