Der Minnesaenger
voranschritt. Vielleicht sollte sie einfach nur dankbar sein, dass ihr Ehemann verschwunden war, und sich ruhig verhalten. Ja, möglicherweise war es klüger, ein Leben in Demut zu führen. Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, wie sie Gott erzürnen sollte, wenn sie sich in den Dienst der Barmherzigkeit stellte.
Durch das Erlernen der Heilkünste wollte sie keine irdischen Güter anhäufen, sondern den Menschen in ihrer Not beistehen. Für die Zukunft nahm sie sich vor, sich nicht mehr von nebulösen Gefühlen beeinflussen zu lassen. Ja, Judith stellte fest, dass eine weitere Verwandlung in ihr stattgefunden hatte. Sie setzte sich nicht nur zur Wehr, wenn ihr Unrecht geschah, sondern schwang sich auch zur Gestalterin ihres Schicksals auf. Noch vor wenigen Monaten hätte sie niemals für möglich gehalten, dass ihr Leben eine so glückliche Wendung nehmen könnte.
16.
Agnes nahm den bestickten Schulterumhang entgegen und bedankte sich herzlich. Mit Erstaunen stellte sie fest, welche Fortschritte Judith gemacht hatte. Von der Frage, was den plötzlichen Sinneswandel bewirkt hatte, nahm sie Abstand, und begnügte sich allein mit der Feststellung, dass sie auf der Adlerburg erschienen war.
Viele Jahre waren vergangen, seitdem Agnes die alte Hebamme aufgesucht hatte, um die verschiedenen Kräuter kennenzulernen. Schon seit längerem spürte sie, dass die Zeit gekommen war, um das angehäufte Wissen weiterzugeben. Ja, seit Urzeiten musste es so gewesen sein:
Eine jüngere Frau suchte eine ältere auf, um von ihr in der Heilkunst unterwiesen zu werden.
»Am besten setzen wir uns auf die Bank«, sagte Agnes. »Da haben wir etwas Schatten. Ich hoffe, du hast genügend Zeit mitgebracht.« Zuerst gab sie Judith einige grundlegende Erklärungen ab. »Du darfst niemals aufhören, Fragen zu stellen. Das Gebiet der Heilkunde ist unerschöpflich, und dein Streben muss es sein, so vielen Menschen wie möglich zu helfen.«
»An wen kann ich mich sonst noch wenden, Herrin?«
»Zunächst kannst du dich mit den Hebammen aus den Dörfern austauschen. Manchmal verfügen sie über erstaunliche Rezepte für Arzneien. Allerdings solltest du klarstellen, dass du ihnen ihr Gebiet nicht streitig machen willst...«
»Euch will auch nichts streitig machen«, sagte Judith schnell.
»Das ist meine geringste Sorge«, erwiderte Agnes lächelnd. »Außerdem war ich schon öfters in dem Spital vor der Stadt. Vater Lothar gibt dort Alten, Siechen, Pilgern, Waisen und Findlingen ein Obdach. Er kennt so gut wie jede Krankheit und gibt bereitwillig Auskunft. Allerdings kann er es nicht ausstehen, wenn man seine Zeit verschwendet.«Agnes kam nach und nach zum eigentlichen Gegenstand. »Mir sind die Augen erst aufgegangen, nachdem ich erfahren hatte, dass der Mensch aus vier Elementen besteht. Vom Feuer hat er die Wärme, von der Luft den Atem, vom Wasser das Blut und von der Erde das Fleisch. Die Elemente müssen in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen, ansonsten macht das Ungleichgewicht den Menschen krank.«
»Könnt Ihr ein Beispiel nennen?«
»Nehmen wir einmal die Verstopfung. Sie wird durch einen Mangel an Wärme verursacht. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, muss ein Mittel zugeführt werden, das die Temperatur anhebt.«
»Und woher soll ich wissen, welche Arznei die richtige ist?«
»Deshalb sitzen wir hier«, sagte Agnes lächelnd. Sie hatte sich nicht in Judith getäuscht. Sie war voller Ungeduld und ähnelte in gewisser Weise der jungen Frau, die sie einmal gewesen war. Das Wissen würde gut bei ihr aufgehoben sein und in der richtigen Weise Verwendung finden. »Bewährt hat sich ein abführendes Getränk. Ingwer, Süßholz und Zitwer werden gerieben, mit mehreren Löffeln Weizenmehl in erwärmtes Wasser eingerührt und auf nüchternen Magen getrunken. Die Wärme des Ingwers sammelt die Säfte, die Wärme und Stärke des Weizenmehls bewahrt sie davor, nicht ordnungsgemäß abzufließen und...«
»Moment mal! Von welchen Säften sprecht Ihr?«
Geduldig erklärte Agnes, dass es vier Arten von Körpersaft gäbe: den trockenen, den feuchten, den schaumigen und den lauwarmen. Allein durch Elemente und Säfte könne der Mensch jedoch nicht leben. Deshalb fehle noch die Seele, die etwa vier Wochen nach der Zeugung in den Klumpen fahre, als würde ein heftiger Wind gegen eine Wand blasen.
Die beiden Frauen unterhielten sich so angeregt, dass sie gar nicht bemerkten, wie schnell die Zeit verstrich. Die Sonne
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