Der nasse Fisch
Wen darf ich für Sie umbringen?«
»Fangen Sie mal bei Ihren Witzen an, Herr Rath! Die sind so alt, dass man ihnen den Gnadenschuss geben sollte.«
Das schien kein Journalist zu sein, und auch kein Verleger. Die Stimme kam ihm bekannt vor. »Mit wem spreche ich bitte?«
»Schwartz hier. Können Sie etwas Zeit entbehren und in die Hannoversche Straße kommen? Oder spielen Sie lieber den Telefonkasper?«
Der Gerichtsmediziner. Rath atmete auf. Wenigstens niemand aus der Chefetage. »Das ging aber schnell! Sind Sie etwa durch
mit der Obduktion?«
»Nein. Aber ich dachte, Sie könnten der Leichenöffnung beiwohnen, dann haben Sie erste Ergebnisse schon heute Abend.«
Das sollte wohl eine Art Mutprobe sein. Der Gerichtsmediziner wollte den Neuen testen. War der ein Weichei, oder konnte er
was vertragen?
Rath beschloss, etwas vertragen zu können.
»Ich bin in einer Stunde bei Ihnen, Doktor, geht das in Ordnung?«
Keine zwei Wochen waren verstrichen, seit er zuletzt durch diese Tür gegangen war. Rath atmete noch einmal tief durch, bevor
er das gelbe Backsteingebäude in der Hannoverschen Straße betrat. Hier hatte alles angefangen. Mit einem wütenden Schwung
stieß er die Tür auf, die vom Foyer in den Schauraum führte. Auf dem Weg zu den Obduktionssälen musste er an der Glaswand
vorbei, hinter der Berlins unbekannte Tote aufgebahrt waren wie in einem makabren Wachsfigurenkabinett. Hier hatten sie auch
Boris drei Tage lang ausgestellt, doch niemand hatte sich gefunden, der den Mann kannte. Niemand, der ihn kennen wollte. Rath
war sich inzwischen sicher, dass es einige Leute in der Stadt gab, die sämtliche Vor- und Nachnamen des toten Russen wussten.
Und die offensichtlich gute Gründe hatten, sich dennoch nicht bei der Polizei zu melden. So wie Alexej Kardakow, so wie Swetlana
Sorokina. Und wahrscheinlich auch Johann Marlow.
Der Obduktionssaal war noch verschlossen, und Rath wartete vor der Tür. Was ihn dahinter wohl erwartete? Wollte Schwartz ihn
nur schocken? Oder hatte er etwas herausgefunden, mit dem er den ahnungslosen Kommissar konfrontieren wollte? Rath versuchte,
den neuerlichen Anfall von Paranoia abzuschütteln. Die Dunkelheit, der Regen. Niemand hätte die Männer unten im Hof erkennen
können.
Rath wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Schwingtür aufgestoßen wurde und Dr. Schwartz mit energischen Schritten und
wehendem Kittel in den Gang trat.
»Tag, Herr Kommissar«, sagte der Mediziner und gab ihm die Hand. »Na, dann wollen wir mal.«
Der Schlüsselbund klirrte laut, als er aufschloss. Rath folgte ihm in den Raum, in dem die Leiche bereits auf dem Marmortisch
lag, noch mit einem Laken verdeckt. Er schaute zu, wie Schwartz ans Waschbecken ging und sich gründlich die Hände wusch. Auf
seinem weißen Kittel waren nur wenige kleine Blutspritzer zu sehen. Irgendwie wollte die elegante Erscheinung des Rechtsmediziners
nicht ganz zu seinem Beruf passen. Auch nicht zu seinem brachialen Humor.
»Mein erster Einsatz als Betonarbeiter«, meinte Schwartz, als er an den Obduktionstisch trat.
»Das glaube ich. Leichen in Beton sind eher selten, nicht wahr?« Rath hoffte, dass Schwartz ihm die Nervosität nicht anmerkte,
mit der er hier hineinspaziert war.
»Darauf würde ich nicht wetten, mein Freund«, entgegnete Schwartz. »In Berlin wird viel gebaut. Und so manchem Toten gönnt
man kein ordentliches Grab.« Er zwinkerte Rath zu. »Möchte nicht wissen, wie viele Neubauten in dieser Stadt auf Knochen errichtet
sind. Aber darüber sollen sich die Archäologen in tausend Jahren wundern.«
Er zog die weiße Baumwolldecke zurück. Wilczek sah jetzt deutlich sauberer aus als in der Baugrube.
»Ich habe mir erlaubt, schon etwas vorzubereiten«, sagte Schwartz. »Damit Sie nicht zu viel Zeit opfern müssen.«
Wilczeks Kopf sah aus wie ein Bierhumpen mit offenem Deckel. Schwartz hatte die Schädeldecke fein rund ausgesägt, um an das
Gehirn zu kommen. Na, das ging ja. Wenigstens hatte er Rath das Geräusch der Knochensäge nicht zugemutet, das hatte er immer
am schlimmsten empfunden, viel schlimmer als all das Blut beispielsweise oder der Anblick eines gehäuteten Gesichts, aus dessen
Augenhöhlen die Augäpfel wie zwei Glasmurmeln stierten.
»Der meiste Beton hing glücklicherweise in der Kleidung, so hielten sich die Verunreinigungen am Körper in Grenzen«, meinteSchwartz, »einen Brocken habe ich im Mund gefunden, aber der ist post mortem dort
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